Verträumter Indie-Pop

Ein nachdenklicher Blick, stimmungsvolle Beleuchtung, Synthklänge – Sivilian hat während des ersten Lockdowns begonnen, seine Solomusik zu veröffentlichen. Seitdem ist einiges geschehen. DISPLAY hat den Schweizer Troye Sivan getroffen.

Text Josia Jourdan

Die Werbung war nicht seine Welt

Sivilian ist der Künstlername und das Soloprojekt von Adrian Graf. Wenn er nicht Texte schreibt und im Studio sitzt oder auf der Bühne steht, arbeitet er an der ZHdK und hilft bei der Ausbildung zukünftiger Videograf*innen. Es ist eine gute Balance, und seine Arbeit macht ihm wieder Freude. Denn der Entschluss, sich mehr auf die Musik zu fokussieren, entstand 2019 auch aus der Unzufriedenheit mit der Werbebranche, in der er gearbeitet hat. 

Dass 2020 dann nicht das Jahr wird, in dem er durchstarten und Konzert nach Konzert spielen würde, konnte damals noch keiner ahnen. «Ich habe mir wirklich nicht den idealen Moment für den Start meiner Solokarriere ausgesucht», meint er kopfschüttelnd. Weitergemacht hat er trotzdem – und dabei sind erfolgreiche Projekte entstanden wie seine erste EP «Invisible to Automatic Doors». Adrian Graf hat aber noch lange nicht ausgeträumt. Auch wenn er wieder Teilzeit als Lehrer für Videografie arbeitet, hat er noch grosse Pläne mit seiner Musik und arbeitet aktuell an einer neuen EP.

Folk-Konzept: Frost & Fog

Sivilian ist nicht sein erstes Musikprojekt. Im Duoprojekt «Frost & Fog» macht er seit 2014 mit seiner guten Freundin Karen Frauchiger Musik, und das erfolgreich. Die beiden haben auf vielen Festivals gespielt, sind auf Tour gegangen und sogar schon auf dem Gurten aufgetreten. Mehr als 200 Konzerte hat er schon gegeben. Graf ist damit also fast schon ein alter Hase in der Schweizer Musikszene. Mit seinem Soloprojekt möchte er sich nun aber intensiver seinen eigenen Texten und Erfahrungen widmen. Er arbeitet dabei gerne mit Konzepten und konkreten Gedankenspielen, die er in Songs verwandelt. So hat er sich in seinem Song «Best Before» (mindestens haltbar bis) mit der Frage auseinandergesetzt, wie lange mensch «jung» ist und wann das persönliche Ablaufdatum beginnt. 

Sivilians Songs klingen international. In seinen neusten Texten bewältigt er unter anderem die seelischen Turbulenzen seines Coming-outs. Sivilians neuster Song: «Best before».  

Zurück in die Kindheit und Jugend

Mit dem Entschluss, sich mehr auf die Musik zu fokussieren, ist Graf zurück in sein Elternhaus gezogen. Aus mehreren Gründen, wie er erklärt. Zum einen natürlich wegen der finanziellen Entlastung, zum anderen, um sich intensiv mit seiner Kindheit und Jugend auseinanderzusetzen. «Es ist verrückt, wie schnell ich den Schmerz aus meiner Jugend und vor meinem Coming-out verdrängt habe», meint er und erzählt, wie er sich durch seine alten Tagebücher gelesen und sich mit depressiven Erfahrungen von damals konfrontiert hat, um diese aufzuarbeiten, aber auch um seiner Musik eine Tiefe zu geben, die er erreichen möchte und die er für wichtig hält. Von dieser Suche nach der verlorenen Zeit soll seine neue EP handeln und damit ein Kapitel seines Lebens abdecken, über das er bisher noch kaum gesprochen hat. 

Er wird über seine Jugend, den Schmerz vom Anderssein und düstere Gedanken singen, von der Angst, sich zu öffnen und möchte so seinem unsicheren jüngeren Ich eine Stimme geben. Er sei weiter, auch als Künstler, und bereit, sich noch sichtbarer zu positionieren. «Früher war es schon eine Überwindung, so öffentlich und auf einer Bühne meine Sexualität zu thematisieren. Ich habe mich verletzlich gefühlt. Heute stehe ich auf der Bühne und hoffe, dass ich für andere ein Vorbild sein kann». 

Natürlich gibt es auch Lovesongs, aber das ist aktuell nicht sein Fokus. Er sei glücklich in einer Beziehung und es gebe schon genug andere, welche die Liebe in ihrer Musik besingen. Sein Fokus sei momentan ein anderer.

Grosse Träume

Besucht man die Social Media-Auftritte des Sängers, merkt man kaum, dass er aus der Schweiz ist. Die Texte und Videos sind auf Englisch, genauso wie die Texte seiner Musik. Das sei eine ganz bewusste Entscheidung gewesen, um sich international zu positionieren. In Zeiten von TikTok, wo Songs jederzeit unerwartet viral gehen können, scheint dies logisch. «Wäre ich statt mit Britney mit Patent Ochsner und Züri West gross geworden, würde ich vielleicht auf Schweizerdeutsch singen», meint er lachend. Es ist klar, die Popsternchen haben es ihm mehr angetan und musikalisch klingen seine Songs auch nicht unbedingt nach der Schweiz.

Graf erzählt von einem Songwriting-Camp, an dem er teilgenommen hat, in dem gleich mehrere ESC-Beiträge für verschiedene Länder entstanden seien. Es war eine neue Erfahrung, und am Abend davor habe er noch gegoogelt, wie so eine gemeinsame Songwriting-Session überhaupt funktioniert. Auch wenn er viel allein an seiner Musik arbeitet, erlebt er die Zusammenarbeit mit anderen Musiker*innen als bereichernd und die Hoffnung, dass dabei auch mal ein Song entsteht, der weit über die Landesgrenzen gehört wird, besteht immer. Und wer weiss, vielleicht entsteht im nächsten Songwriting-Camp der nächste Schweizer ESC-Beitrag?

«Es ist verrückt, wie schnell ich den Schmerz aus meiner Jugend und vor meinem Coming-out verdrängt habe»

Aktuell fokussiert sich Sivilian auf Liveauftritte und möchte regelmässig neue Songs veröffentlichen, so dass seine neue EP auf Ende Jahr erscheinen kann. Dabei muss er sich selbst immer wieder daran erinnern, dass er schon viel erreicht hat und dass Erfolg eben mehr als bloss das Geld auf dem Konto ist. «Zu wissen, dass es Menschen gibt, die meine Musik hören, auf Tour zu gehen und an Festivals zu spielen, ist schon ein Erfolg».