Raphael bringt Filme zum Klingen

Raphael Sommer ist Synästhetiker – er sieht Musik. Erblickt er Bilder, ertönen in seinem Kopf Klänge. Dabei entstehen Melodien, für die Raphael schon diverse Preise gewonnen hat.  

Interview Wolfgang Bürgi

Wer sich nur auf sein Talent verlässt, bringt es nicht weit. Erst harte Arbeit ist es, die ein Talent zur Entfaltung bringt. Arbeit, die Raphael Sommer nicht scheut und ihm zuletzt eine Einladung nach New York einbrachte.

Die IYMC (international young music competition) überzeugte Raphael unter anderem mit der Komposition «Palestine» aus der Sinfonie «Requiem», was zu einem dritten Platz führte. In der zweiten Runde, der Auszeichnung für die Jahresbesten, war es dann die Komposition zum Licht- und Klangspektakel «Dimen-
sion», für die Raphael Sommer 2023 die Auszeichnung als Künstler des Jahres für klassische Komposition in New York entgegennehmen durfte. Höchste Zeit für ein Gespräch:

Raphael Sommer: Viel. Ich durfte an manchen schönen Produktionen teilnehmen, mit anderen Künstlern wachsen und von ihnen lernen. Andererseits durchlebt man als Künstler ja
immer auch Krisen. Selbstzweifel, nicht gut genug zu sein oder die Angst, dass es nicht mehr vorwärts geht. Da sind Auszeichnungen ein Lichtblick und machen Freude. Es war auch das erste Mal, dass ich eine Auszeichnung persönlich in Empfang genommen habe. Das getraute ich mich vorher nicht. Für mich war das Ganze ein Prozess, der mich zwang, über meinen Schatten zu springen. Ich wollte eigentlich gar nie gegen Kolleg*innen in ein Rennen steigen, aber irgendwann dachte ich mir, es wäre doch sinnvoll, bei Wettbewerben mitzumachen. So fing ich vor drei Jahren damit an. 

Klassik verbindet man ja nicht unbedingt mit jungen Menschen. 

Stimmt, meine Neigung ist umso ungewöhnlicher, als ich auch gar nicht aus einer Künstlerfamilie komme oder einer Familie, in der Musik gespielt wurde.

Trotzdem hast du mit 15 Jahren damit angefangen. Wie kam es dazu?

Ursprünglich wollte ich Filmregisseur werden. Mit zwölf begann ich mit am Computer animierten Kurzfilmen. Da begann ich auch erste Melodien zu entwickeln. 


Komposition entsteht einerseits durch erlernbare Technik und andererseits aus Gefühlen. Mit welcher Methodik gehst du ran? 

Studiert habe ich ja nie. Das muss ich noch nachholen. Denn wenn das musikalische Fundament fehlt, kommt man nur mit viel Übung zu Resultaten. Ziemlich ineffizient und auch frustrierend, wenn man das Gehörte umsetzen muss. Aber es hat auch Vorteile, wenn man die Kompositionen für sich durchdenken muss. Denn für mich ist es normal, dass, wenn ich Bilder sehe, die Musik in meinem Inneren dazu entsteht. 

Wie muss ich mir das vorstellen?

Ich weiss nicht, ob dir Synästhesie etwas sagt, aber das ist eine besondere Form der Sinneswahrnehmung. Wann immer ich Bilder sehe, höre ich dazu in meinem Inneren Musik. Diese
Musik muss dann unbedingt raus aus meinem Inneren. Ich kann das nicht steuern. 

Hast du ein konkretes Beispiel?

Beim Film «Plüss» habe ich mir den Rohschnitt mit dem Regisseur zusammen angeschaut. Dann hatte ich den Film vollständig im Kopf, bin am gleichen Abend ins Studio gegangen und habe den Titeltrack geschrieben. Das war so eine Situation, in der mir die Musik völlig klar erscheint und alles passt. Schwieriger wird es, wenn die Vision des Projekts vonseiten des Auftraggebers nicht klar ist. Die Projektbeschreibung, das Skript, das Storyboard oder der Rohschnitt sind für mich das A und O. Eine andere Methode, die ich anwende, besteht darin, direkt zu einem Bild oder Film zu improvisieren, ohne nachzudenken. Mein Unterbewusstsein lenkt mich dabei. Das Erste, was ich dann ausarbeite, sind Klavier- und Cellospuren.

Das heisst, du lässt einfach deine Hände über die Tasten fliegen zu den Tönen, die du in deinem Inneren hörst. Das ist eine Gabe! 

Das ist es sicher und ich mache das sehr gern. Das ist eine coole Sache. Aber ich bin natürlich beileibe kein Konzertpianist. 

Im Film «Glass World» geht es um das Klima. In «Plüss» um die Ausgrenzung von Arbeitslosen aus der Gesellschaft. Wie bereitest du dich auf die emotionalen Anforderungen vor? 

Ich muss mich darauf nicht vorbereiten. Es gibt zwei Aspekte. Das eine ist: In den letzten 20 Jahren habe ich keine Woche gehabt, in der ich nicht an einem Projekt gearbeitet habe. Das heisst, Kreativität kann man trainieren. Sie ist wie ein Muskel, der ständig im Training ist. 

Das andere ist, bei «Glass Word» lief es anders. Eine Filmregisseurin schrieb mich an und meinte, ich solle die Stimmung während des Lockdowns musikalisch niederschreiben. Das war 2020. Bis dahin liess ich mich nie auf solche Anfragen ein, aber ich komponierte dann doch fünf Stücke, die erst einmal liegen blieben. Ein paar Monate später ergab sich dann der Kontakt mit Mark Benecke. Wir fanden uns, und so entstand ein Filmprojekt, das sich um die bestehende Musik und Mark Benecke herum entwickelte. Auch eine coole Methode zur Filmentwicklung.

«Plüss» kommt ja bald in die Kinos. Kannst du uns dazu etwas verraten?

Der Film ist praktisch fertig. Vorgesehen ist, dass er im Februar in die Kinos kommt. Produzent und Regisseur ist Martin Albisetti. Es ist ein Schwarz-Weiss-Film, der gegen Ende immer blasser wird. Sozusagen als Sinnbild für die Ausgrenzung eines Menschen aus der Gesellschaft. Der Film selbst ist experimentell, was mir sehr gefällt. Es gibt rückwärts laufende Bilder, was man zu Beginn gar nicht merkt. Ja, die ganze Story läuft rückwärts. Die Geschichte eines Arbeitslosen basiert übrigens auf dem Roman «Der Kollege» von Jörg Steiner. 

Bei «Plüss» bist du nicht nur für die Komposition verantwortlich?

Richtig, ich bin auch Co-Produzent. Die Zusammenarbeit mit Martin Albisetti war spannend und inspirierend. Martin lebt mental auf einem anderen Stern. Er hat eine neue, amerikanische Filmmethode angewendet. Bei dieser Methode gibt es keine Dialoge für Schauspieler*innen. Bekannt sind nur Anfang und Ende einer Szene sowie die darin vorkommenden Gefühle, respektive die Stimmung. Der Dialog dazwischen bleibt künstlerische Freiheit und ergibt sich durch die Worte der Schauspieler*innen von selbst. Eine Methode, die es Martin Albisetti auch erst möglich machte, das Buch von Jörg Steiner zu verfilmen. In unserem kreativen Austausch konnten wir uns gegenseitig hochschaukeln. Es stimmt mich traurig, dass sich das Projekt dem Ende nähert.

Du arbeitest zurzeit an einer Single für den Verein Mandach Naran. Was gab den Ausschlag?

Vivianne Dubach, die Vereinspräsidentin, kam auf mich zu. Der Verein hat viel positiven Power und ist unter anderem Bindeglied für den kulturellen Austausch zwischen der Schweiz und der Mongolei. Sie unterstützten beispielsweise sozial benachteiligte alleinerziehende Frauen, indem sie ihnen und ihren Kindern eine Jurte schenken. Jurten sind Zelte, also im Prinzip mongolische Einfamilienhäuser. Mich faszinierte besonders die Zusammenarbeit mit einem Pferdekopfgeiger. 

«Plüss» – der Film
«Plüss» nach dem Roman «Der Kollege» von Jörg Steiner erzählt die Geschichte des Arbeitslosen Max Plüss und dokumentiert den schleichenden Prozess der Ausgrenzung von Menschen, die im Arbeitsleben keinen Platz mehr finden. 

Der Filmstart ist auf Februar 2024 vorgesehen.


Die Pferdekopfgeige ist das wichtigste Instrument in der Mongolei und ein nationales Symbol.

Ja, meine Idee für die Musik war ein Nomade, der auf einem Berg steht und mit seiner Pferdekopfgeige das Land ehrt. Der Verein hat meine Idee zu Beginn nicht ganz verstanden, als ich mit meinem «Hollywood-Kitsch» ankam. Sie durften jedoch ihre Ideen einfliessen lassen und haben sich voll in die Produktion gehängt. Jetzt, nach Ende der Dreharbeiten, haben sie meine hochgesteckte Vision weit übertroffen. Ich glaube, das macht Mandach Naran aus. Sie lassen sich unvoreingenommen auf Situationen ein. Das ist erstaunlich und vermutlich einer der wichtigsten Gründe für ihren Erfolg. 

Ein weiteres Soundtrack-Album ist nach «It‘s Halloween» in Zusammenarbeit mit Mark Benecke geplant. Neu dabei ist der Gamedesigner und Komponist Björn Pankratz. Wie kam es dazu?

Als ich Mark Benecke kennenlernte, erzählte er mir von seinem Traum, einen eigenen Soundtrack zu produzieren. Er selbst macht auch Musik aus Spass. Da haben wir gemeinsam «It‘s Halloween» mit der Musikerin Bianca Stücker produziert. Für das Nachfolgealbum «X-Files», das etwas grösser ausfallen sollte, wollte ich einen weiteren Komponisten im Team haben. Für mich war klar, dass nur Björn Pankratz in dieses Team passen würde. Björn war mich immer eine grosse Inspiration.

Wie erholst du dich nach so einem Projekt?

Wenn du so ein Werk abgibst, bist du komplett leer und kaputt. Dann kommt das grosse Loch. Das ist schon fast eine depressive Phase, weil das Dopamin bis zum letzten Tropfen ausgeschossen wurde. Ich muss dann ein, zwei Tage frei machen. Ich bin aber auch an einem Punkt angelangt, an dem ich mir überlege, für mehrere Wochen Pause zu machen. Ich habe schon seit meinem 15. Lebensjahr keine längeren Pausen mehr gemacht, muss aber dazu anfügen, dass ich mich an geregelte Arbeitszeiten halte. Aber es bleibt dennoch eine grosse Herausforderung.

Raphael Sommer Sommer, geboren am 8. März 1989, ist ein Schweizer Komponist und Musiker aus dem Kanton Basel. Sein Debüt gab er als Kinofilmkomponist 2013 für den Schweizer Dokumentarfilm «Schweizer Geist». Grössere Bekanntheit erlangte er 2015 durch die Filmmusik zu «Camino de Santiago». Voraussichtlich ab Februar wird seine neuste Produktion, der Film «Plüss», in die Schweizer Kinos kommen.
Daneben komponiert Raphael Sommer auch immer wieder klassische Sinfonien wie das «Requiem» oder «Dimension».

Infos: sommerfilmmusic.com


Also keine Nachtschichten?

Nein, die mentale Arbeit muss ich mit viel Schlaf kompensieren. Nach einem Arbeitstag muss ich erst ein, zwei Stunden schlafen, bevor ich den Feierabend geniessen kann. Ich bin haarscharf an einem kompletten Ausfall vorbeigeschlittert. 

Bei all der Arbeit wäre ein lieber Partner wohl der beste «Ausgleich».  Wie sieht es bei dir privat aus?

In den letzten Wochen habe ich unerwartet einen ganz tollen und aussergewöhnlichen Mann kennengelernt, der meine Träume erfüllt. Ich kann nur so viel verraten, dass er Maik heisst und ich bin gespannt, wohin uns unsere Reise führt. Ich freue mich sehr darüber. 

Ausserdem werde ich künftig nicht alleine wohnen, da ich eine wunderbare beste Freundin habe. Es sieht so aus, als ob wir nächstes Jahr gemeinsam ein Bauernhaus übernehmen und zusammen darin leben werden.

Eine letzte Frage. Welche Musik hörst du privat am liebsten?

Das ist phasenabhängig. Der Dauerbrenner ist jedoch das Elektro-New Age-Musikprojekt Enigma von Michael Cretu. Oder die Symphonic-Metal-Band Nightwish. Aktuell habe ich eine Country-Phase. Ich gehe dann die Spotify-Listen durch und höre mir da das eine oder andere an. Aber am meisten höre ich natürlich schon Filmmusik.  


Mit Mark Benecke und Björn Pankraz zusammen komponiert Raphael Sommer den kommenden Fantasy-Soundtrack X-Files.