Magische Zeitreise

Interviews mit Regisseur Andrew Haigh und «Billy Elliot»-Star Jamie Bell zum filmischen Meisterwerk «All of Us Strangers».

Mit «Weekend» präsentierte Andrew Haigh eine hübsche Lovestory zwischen zwei Männern, die mit einem One-Night-Stand beginnt und zur Achterbahn gerät. Danach liess er Charlotte Rampling und Tom Courtenay in «45 Years» in eine Ehekrise schlittern. Beide bekamen auf der Berlinale gemeinsam den Schauspiel-Bären. Preisverdächtig ist nun auch «All of Us Strangers», die Geschichte eines Helden, der sich überraschend verliebt. Und bei einer Zeitreise seine Eltern besser kennen lernt. Andrew Scott und Paul Mescal spielen das Liebespaar, die Eltern werden von Claire Foy und Jamie Bell verkörpert. Sieben British Independent Film Awards hat es dafür bereits gegeben. Weitere Auszeichnung dürften folgen. Dieter Osswald sprach mit dem Autor und Regisseur.

DISPLAY: Mister Haigh, würden Sie gerne die gleiche Reise machen wie Ihr Held im Film und Ihre Eltern aus den 80er Jahren treffen?

Andrew Haigh: Ich glaube, unser Leben ist eine Ansammlung aller Beziehungen, die wir jemals hatten. Sowohl romantischer Art als auch mit der Familie oder mit Freunden. Sie alle sind ein Teil von uns. Und es gibt immer Dinge, die ungesagt bleiben oder welche man wieder in Ordnung bringen möchte. Deshalb besitzt diese Idee etwas Magisches, dass man in der Zeit zurückzugehen kann, um ein Gespräch zu führen mit einem früheren Partner oder mit einem Familienmitglied. Es gibt wohl immer etwas, das man in früheren Beziehungen gerne wieder in Ordnung bringen würde. 

In der japanischen Roman-Vorlage handelt es sich um eine heterosexuelle Lovestory. Was hat Sie bewogen, daraus eine queere Geschichte zu machen? 

Für mich war es einfach naheliegend. Ich bin schwul und wollte die Story aus dieser Perspektive erzählen. Es sollte eine persönliche Geschichte werden, in der ich meine eigenen Erfahrungen einbringe, die ich als Heranwachsender in dieser Zeit in England gemacht habe. Mich interessieren queere Geschichten, insbesondere, wenn es wie hier um Schwulsein und Familie geht.  

Darf man einen Roman so einfach verändern? Wie hat der Autor darauf reagiert? 

Wir haben mit dem Autor und seiner Familie gesprochen und sie waren offen für alles, was wir daraus machen wollten. Bei einer Adaption muss man nicht zwangsläufig genau dieselbe Geschichte erzählen. Ich kann eine zentrale Idee des Romans zu meiner eigenen machen. Mir ist es wichtig, dass ich einen persönlichen Bezug zu einem Projekt habe. 

Im Liebesdrama «45 Years» schildern Sie einfühlsam die Beziehung eines älteren Ehepaares. Fühlen Sie sich bei einer schwulen Lovestory wie hier dennoch wohler?  

Ich würde nicht behaupten, dass ich mich bei einer schwulen Story wohler fühle. Denn jede intime Beziehung ist eine intime Beziehung. Ich glaube, dass ich die Natur von Beziehungen ganz gut verstehe. Das lässt sich auf unterschiedliche Weise ausdrücken, aber bei queeren Figuren kann ich eben noch meine eigenen Erfahrungen einbringen, weil ich genau weiss, wie sich etwas anfühlt. Als Filmemacher erzähle ich gerne Geschichten, die manchmal von queeren Menschen handeln und manchmal eben auch nicht.  

Was halten Sie von der Forderung, wonach queere Rollen nur von queeren Menschen gespielt werden sollten? 

Ich kann die Argumente nachvollziehen. In bestimmten Fällen finde ich es absolut richtig, dass zum Beispiel eine trans Person eine trans Figur spielt. In anderen Situationen bin ich da flexibler. Für die Rolle des Adam wollte ich einen schwulen Schauspieler haben, denn es gab eine Menge Nuancen, die ich besprechen wollte. 

Ein Film über einen frustrierten Drehbuchautor könnte leicht zum larmoyanten Jammer-Spiel geraten. Wie entgeht man der Gefahr einer Kopfgeburt? 

Ich mache meine Filme, wie ich sie eben mache. Ich versuche, eine emotionale Geschichte zu erzählen. Dies ist keine intellektuelle Übung. Es ist eine emotionale Erfahrung, die ich den Zuschauern vermitteln möchte. Es geht um jemanden, der aus der Einsamkeit kommt. Der sich mit einigen Aspekten seines Lebens auseinandersetzt, um zu verstehen, dass er die Fähigkeit hat, zu lieben und geliebt zu werden. Ich mache mir nie zu viele Gedanken darüber, ob eine Story für ein Publikum zu obskur ist. Ich erzähle einfach die Geschichte, die ich erzählen will. 

Wie gross sind die Gefahren von Sentimentalität und Kitsch? 

Ich bin mir immer über den emotionalen Zustand des Films bewusst. Ich möchte ihn nicht in reine Sentimentalität treiben, aber ich möchte auch nicht so subtil sein, dass man nichts fühlt. Es geht also darum, die richtige Balance zu finden. Der Film erzählt keine realistische Geschichte, gleichwohl war es mir wichtig, dass er sich ganz wahrhaftig anfühlt. 

Schauspieler Andy Bell erzählt, er habe sich noch nie zuvor derart wohl an einem Set gefühlt. Wie wichtig ist Ihnen die Atmosphäre beim Drehen?  

Das war mir immer ein Anliegen, sowohl bei Schauspielern als auch bei der Crew. Unser Job kann schwierig sein, aber deshalb muss es nicht schmerzhaft ausfallen. Man bekommt etwas Faszinierenderes und Schöneres, wenn man freundlich zu den Menschen ist. Wenn man eine Verbindung herstellen kann und das Gefühl vermittelt, dass wir alle miteinander verbunden sind, kann etwas Magisches entstehen. Ich möchte, dass alle am Filmset das Gefühl haben, dass wir Freunde sind. 

Welche Reaktionen gab es bisher bei Festivals auf den Film?  

Ich bin fasziniert von den Reaktionen. Man spürt, wie berührt die Menschen sind, wenn sie aus dem Kino kommen. Für mich ist das immer etwas Besonderes, weil man vorher ja nie wissen kann, ob ein Film beim Publikum ankommt. Ich bin glücklich, dass dies offensichtlich der Fall ist. Mehr kann man sich nicht erhoffen. 

Mit welchen Gefühlen sehen Sie der Zukunft des Kinos mit der Künstlichen Intelligenz entgegen?

Ich habe nicht unbedingt Angst davor. Es kommt darauf an, wie wir KI nutzen. Ich glaube nicht, dass ich von dieser Technologie verdrängt werde. Ein kreativer Schöpfer wird immer der Schöpfer bleiben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine künstliche Intelligenz irgendwann einmal Regie führen wird. 

Man könnte alle Klassiker mit KI zu Gay-Geschichten umschreiben… 

Stimmt, das könnte man versuchen. Und wenn es funktioniert, dann werde ich das benutzen! (Lacht). Wir können KI nicht automatisch missachten. Aber es ist nicht gut, wenn KI anfängt, die kreative Arbeit zu übernehmen. Denn der Grund, weshalb wir uns mit Filmen, Büchern und Kunst verbinden, liegt darin, dass ein menschliches Wesen dahintersteckt. Deshalb ist die Kunst über die Jahrhunderte hinweg so wichtig für unser Leben. Ich hoffe also, dass all das nicht verschwindet. Andernfalls sind wir wahrscheinlich in grossen Schwierigkeiten. 

Was würden Sie sich wünschen, dass das Publikum aus diesem Film mitnehmen soll? 

Ich hoffe, das Publikum bekommt ein besseres Verständnis für die Bedeutung von Beziehungen. Sei es zu Menschen, die bereits verstorben sind. Oder im Verhältnis zu den Kindern, den Partnern, den Freunden oder den Eltern. Vielleicht hat man nach dem Film das Bedürfnis, jemanden anzurufen. Oder seinen Lover noch ein bisschen stärker in den Arm zu nehmen – was tatsächlich auch schon passierte! 


«Der Film vermittelt ein ‹wäre das nicht toll›-Gefühl»

Interview mit «Billy Elliot»-Star Jamie Bell zu «All of Us Strangers».

Seine Karriere begann mit 14, da spielte er die Hauptrolle eines tanzwütigen Teenagers in «Billy Elliot – I shall dance». Zu den weiteren Filmen von Jamie Bell, 37, gehören so unterschiedliche Titel wie «Dear Wendy» von Thomas Vinterberg, «King Kong» von Peter Jackson oder «Flags of our Fathers» von Clint Eastwood. Zudem engagierte ihn Lars von Trier für «Nymphomaniac». Nun spielt der Brite im Arthouse-Drama «All of Us Strangers» von Andrew Haigh einen Vater, der von seinem schwulen Sohn Besuch aus der Zukunft bekommt. Mit dem Schauspieler, der demnächst als Fred Astaire zu sehen sein wird, unterhielt sich Dieter Osswald. 

DISPLAY: Mister Bell, wie kamen Sie zu diesem Projekt?

Jamie Bell: Das Material ist gut. Das habe ich beim Lesen des Drehbuchs schnell erkannt. Es steckt viel Gefühl in dieser Geschichte. Sie ist persönlich, sie ist ehrlich, roh und zärtlich zugleich. Ich mochte die Arbeit von Andrew Haigh schon immer, die grosse Wahrhaftigkeit bietet er auch in diesem Film. 

Ihre Filme bieten eine grosse Bandbreite. Von Popcorn-Kino wie «King Kong» oder «Fantastic Four» bis zu Arthouse à la «Nymphomaniac» oder «Skin». Wie kommt es zu dieser Mischung aus kommerziellem und radikalem Kino?

Es ist ein bisschen wie Flipper. Ich glaube, ich hatte grosses Glück. Nach mehr als 20 Jahren in diesem Geschäft weisst du, welch ein Geschenk so eine Karriere bedeutet, zumal wenn du so jung angefangen hast. Ich durfte mit einigen echten Grössen arbeiten. Und ich lerne ständig dazu. Es gibt ständig neue Wege und Techniken. Das Kino entwickelt sich immer weiter, was ich sehr spannend finde.  

Würden Sie gerne, so wie der Held im Film, zurück in der Zeit reisen, um Verstorbene zu treffen?  

Ich wäre fasziniert davon, meine Mutter in ihren jungen Jahren kennen zu lernen. Ich würde sie umarmen und ihr sagen, was für einen wunderbaren Job sie macht – was wahrscheinlich leider nicht viele Leute taten. Dieses «wäre das nicht toll»-Gefühl vermittelt dieser Film. Es ist wie in einem Traum.

Wie froh sind Sie, dass Ihr «Billy Elliot»-Erfolg zu einer Zeit stattfand, als es noch keine sozialen Medien gab?

Darüber bin ich absolut froh! Es war schon ohne soziale Medien ein schwieriger Weg für mich. In diesem jungen Alter weiss man ohnehin noch nicht so genau, wer man eigentlich ist. Wenn dann so ein grosser Erfolg hinzukommt, kann das schon überfordernd sein für einen Teen. 

Wann haben Sie «Billy Elliot» zum letzten Mal gesehen? 

Oh mein Gott. Vor etwa 20 Jahren vielleicht. 

In «Rocketman» haben Sie den Freund von Elton John gespielt. Demnächst sind Sie als Fred Astaire in «Fred & Ginger» zu erleben. Sind reale Personen schwerer zu spielen? 

Für mich gehört das Recherchieren zu den liebsten Aspekten in diesem Beruf. Es geht darum, etwas über jemanden zu lernen, und diesen Entdeckungsprozess finde ich spannend. Für die Rolle von Bernie Taupin in «Rocketman» bin ich nach Santa Barbara gereist und habe lange mit Bernie über Elton und ihr gemeinsames Leben gesprochen. Diese ganze Detektivarbeit tritt allerdings völlig in den Hintergrund, wenn man diese Figur dann tatsächlich spielt. Da muss dann alles von innen kommen.

Fühlen Sie sich auch wohl, wenn Sie sich auf dem Bildschirm sehen? 

Ich finde es schrecklich. Vermutlich ist das ein Zeichen meiner Unreife, über die ich hinwegkommen muss. So schlimm kann es wirklich nicht sein. Aber aus irgendeinem Grund ist es für mich so. Es fühlt sich an, als hätte ich einen Autounfall. Mein Herz rast – und dabei kann ich in diesem Stadium ja ohnehin nichts mehr ändern. 

Was hat Sie an dem kommenden Projekt «Fred & Ginger» interessiert? 

Mich interessiert, wie so ein Entstehungsprozess funktioniert. Wie hat Astaire das geschafft, was er geschafft hat? Wie sah seine Beziehung mit Ginger aus? Wie gelang ihm diese Intimität?

Was sollte das Publikum aus dem Film mitnehmen? 

Wenn eine Chance für die Liebe besteht, sollte man sie wahrnehmen. Ganz egal, wie schwierig es sein könnte, nutzt die Gelegenheit, es lohnt sich!