Kevin Kühnert im Interview vom DISPLAY Magazin

Der erste schwule Kanzler!

Das «Time»-Magazin zählt ihn zu den führenden Köpfen der jungen Generation – und wir sähen ihn bei den baldigen Wahlen so gern als Merkel-Nachfolger: Kevin Kühnert. Der streitbare schwule SPD-Vorstand erklärt im DISPLAY-Interview, was queere Politik ausmacht, was ihn mit der Schweiz verbindet und ob er an der Zurich Pride auftreten würde.

Interview Dieter Osswald, Bild Nadine Stegemann

DISPLAY: Kevin Kühnert, was verbindet den deutschen Oberjuso mit der Schweiz?

Kevin Kühnert: In der Schweiz war ich im Urlaub – und ich bin als Bergliebhaber immer wieder begeistert! Ich lebe gerne hier in Berlin, aber die Natur fehlt mir dann doch. Politisch gibt es intensive Kontakte mit der Schweiz. Letzten Sommer war ich dort auf Einladung von Ex-Juso-Chef Cédric Wermuth, der jetzt ja als Teil einer Doppelspitze für das SP-Präsidium kandidiert. Zudem gibt es zwischen den Jugendorganisationen der Sozialdemokratie von Deutschland, Österreich und der Schweiz eine enge Zusammenarbeit – wir nennen das die Alpen-Internationale. 

Ist die SPD die beste Partei für schwul-lesbische Belange?

Ich bin ja froh, wenn es mehrere Parteien gibt, die sich für queere Belange einsetzen. Schwule und Lesben sind keine homogene Interessengruppe, die nur deshalb in eine Partei eintreten, weil sie schwul oder lesbisch sind. Sie alle haben eigene Vorstellungen von Wirtschaft, Daseinsvorsorge – in der Schweiz nennt man das Service Public – oder Umweltpolitik. Im Feld der Gleichstellungspolitik haben wir nicht ohne Grund eine enorme Liberalisierung unter Rot-Grün in Deutschland durchgesetzt – wie etwa das Lebenspartnerschaftsgesetz. Die SPD setzt sich seit Jahrzehnten gezielt für queere Menschen ein. Auch für diejenigen, die uns nicht wählen.

«Schwulen und Lesben ist der Zugang zu vielen Führungspositionen immer noch verwehrt»

Welchen Stellenwert hat Queerness im sozialdemokratischen Themenkatalog von Klimawandel, Wohnungsnot, Bildung, sozialer Gerechtigkeit?

Die sozialdemokratische Erzählung beginnt bei der Teilhabe durch Arbeit, bei der Verteilung von Wohlstand – was ja durchaus etwas mit queeren Themen zu tun hat. Schwulen und Lesben ist der Zugang zu vielen Führungspositionen immer noch verwehrt und queere Menschen erleben leider auch einen Paygap auf dem Arbeitsmarkt. Was wir in der feministischen Bewegung seit über 100 Jahren zu erstreiten versuchen, das gilt hier in ähnlicher Weise. Das Schöne an Werten wie Gleichheit und Solidarität ist ja, dass sie universell für alle gelten. Ich bin beispielsweise super froh, dass wir auch trans Personen in der SPD haben, die aus eigener Erfahrung wissen, warum sie mit uns gegen das aktuelle Transsexuellengesetz kämpfen, weil sie nicht pathologisiert werden wollen.

Jenes «Und das ist gut so»-Coming-out von Klaus Wowereit verschaffte
ihm hohe Sympathiewerte. Hatten Sie ähnliche Pläne, als Sie ihre sexuelle Orientierung publik machten?

Schwulsein als Sympathiewerbung zu sehen, würde unsere Gesellschaft überschätzen! (Lacht) Guido Westerwelle und der FDP hat das seinerzeit ja auch nicht aus der Patsche geholfen. Ganz im Gegenteil! Was Wowereit damals gemacht hat, war schlicht und ergreifend mutig. Erstens war die Welt vor 20 Jahren eine andere als heute. Zweitens ist er offensiv einer Outing-Kampagne der Boulevardmedien zuvorgekommen. Wowereits Bekenntnis zum Schwulsein ebnete Berlin den Weg heraus aus dem Dasein als spiessige deutsche Hauptstadt, hin zu einer liberalen, kosmopolitischen Metropole. 

Und was war Ihre Motivation fürs Coming-out via Interview? War es Strategie oder spontane Eingebung?  

Das Coming-out war kein strategisches Kalkül. Eigentlich war es nicht mal ein Coming-out, denn das liegt bei mir schon 15 Jahre zurück. Ich hatte jedenfalls eine Interviewanfrage des Berliner Szenemagazins «Siegessäule». Damit war klar, dass dieses Thema am Rande eine Rolle spielen könnte. Ich hätte das nicht von mir aus thematisiert, aber ich verheimliche auch nichts oder verleugne Teile meiner Persönlichkeit. Ich habe auf die gestellte Frage wahrheitsgemäss geantwortet, ohne mir dabei tiefer etwas gedacht zu haben. Mein vielleicht naiver Wunsch ist, irgendwann an jenen Punkt zu kommen, an dem man eine sexuelle Orientierung einfach erwähnen kann, ohne dass sofort eine Schlagzeile daraus wird. Offensichtlich sind wir noch nicht so weit. 

Wie fielen die Reaktionen auf Ihr Coming-out aus?

Es waren gar nicht die unmittelbar negativen Reaktionen, aber in dem Moment, in dem man als Politiker auch als Homosexueller wahrgenommen wird, mischt sich in viele politische Angriffe eine homophobe Komponente. Die Leute greifen nach einem Talkshow-Auftritt nicht mehr mich in meiner politischen Position an, sondern wählen den Umweg über die Homosexualität, um zu sagen: «Was nimmt sich die Schwuchtel eigentlich heraus? Der soll froh sein, dass nicht die Zeiten von vor 80 Jahren sind. Da hätte man ganz andere Sachen mit ihm gemacht.»

Unter Politikerinnen gibt es eine Frauen-Solidarität über Parteigrenzen
hinweg. Wie ist Ihr Verhältnis zum offen schwulen CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn? 

Ich habe Jens Spahn persönlich noch nie getroffen, von daher hat sich das noch nicht ergeben. Ich würde aber auch sagen, von allen aufgrund der sexuellen Identität angefeindeten Gruppen, sind Schwule diejenigen, die sich am ehesten hintenanstellen können, wenn es um Diskriminierungserfahrungen geht. Natürlich werden auch wir angefeindet. Aber bei Lesben kommt eine doppelte Diskriminierung hinzu. Bei trans Menschen gibt es die völlige Exotisierung. Schwule sind im Vergleich die gesellschaftlich anerkannteste Minderheit. Ganz viele wollen unbedingt irgendwelche schwulen beste Freunde haben.

Etliche Politiker verheimlichen ihre sexuelle Orientierung. Wie finden Sie einen Satz des CDU-Ministers Peter Altmaier, der 2012 sagte: «Der liebe Gott hat es gefügt, dass ich allein durchs Leben gehe»?

Ich habe zum lieben Gott kein sonderlich enges Verhältnis und kann daher nicht beurteilen, ob er anderen ein guter Berater ist. Ob alleinstehend, in einer oder mehreren Beziehungen oder verheiratet sollte eigentlich keine Rolle spielen. Mir ist wichtig, ein gesellschaftliches Klima zu haben, in dem niemand so einen Satz sagen muss, wenn er nicht genau so gemeint ist. Aber ich bin nicht naiv, ich weiss, dass es auch im Jahr 2020 solche Geschichten zuhauf gibt. Und zwar nicht nur bei Prominenten, sondern auch in den Reihen dahinter.

Kann es Nachteile haben für Politiker, sich zu ihrer «abweichenden» sexuellen Identität zu bekennen?

Natürlich kann es Nachteile haben. Ob die sexuelle Identität ein Karrierehindernis sein kann, hat sicherlich auch etwas mit der Partei und ihren Werten zu tun. Das Mindset einer Partei kann man nicht beschliessen oder über das Grundgesetz ändern. Das sind innere Aushandlungsprozesse, die eine Partei durchnehmen muss. 

«Lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder», schwadronierte einst CSU-Chef Strauss. Mittlerweile hat Merkel die Homoehe legalisiert – wie sehen Sie die Wandlung der Konservativen?

Angela Merkel die Legalisierung der Homoehe zuzuschreiben, ist dann doch etwas weit hergeholt. Gerade das Abstimmungsverhalten von Merkel in dieser Frage hat mich völlig ratlos zurückgelassen. Mit ihrer beiläufigen Bemerkung während eines Talks mit der Zeitschrift «Brigitte» gab sie der SPD die Möglichkeit, die Entscheidung im Bundestag herbeizuführen. Gleichzeitig hat sie als Abgeordnete dann mit Nein gestimmt. Ich habe das so interpretiert, dass sie nach Abschaffung der Wehrpflicht, dem Einstieg in den Atomausstieg und anderen konservativen Zumutungen einmal zeigen wollte: «Naja, es gibt noch Sachen, da stimme auch ich konservativ ab». Ich kann mir kaum vorstellen – zumal die Begründung so lustlos vorgetragen war –, dass das ernsthaft ihre Position ist. Ich finde es dann aber enttäuschend, weil ich eigentlich von politischen Führungskräften erwarte, in solchen Haltungsfragen nicht taktisch zu agieren, sondern aus einer Überzeugung heraus. 

Gleichwohl: Die Homoehe ist jetzt legal. Was die CDU sich ans Revers heftet.

Na gut, das ist bei vielen Dingen so. In Umfragen sagen 45 Prozent, Merkel hätte den Mindestlohn eingeführt. Das ist ja unser grosses Leidwesen mit dieser Koalition. So wie der Mindestlohn von uns Sozialdemokrat*innen erkämpft wurde, so hat die CDU eben auch nicht die Öffnung der Homoehe durchgebracht. Nur ein Viertel ihrer Abgeordneten im Bundestag hat dafür gestimmt. Mit Stimmen der CDU kam die Homoehe also nicht zustande, sondern es war das einstimmige Votum von SPD, Grünen und Linken. Mit Unterstützung eines erfreulichen Haufens von Unions-Abgeordneten, die aber für die Mehrheit nicht relevant waren.

«So wie der Mindestlohn von uns Sozialdemokrat*innen erkämpft wurde, so hat die CDU eben auch nicht die Öffnung der Homoehe durchgebracht»

Eine Mehrheit in der Schweiz sprach sich für ein Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung aus. Wie kämpfen Sie gegen Homophobie?

Ich sehe das als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Zum einen durch die Normalisierung der Normalität: Mit welchen Gesellschaftsbildern schicken wir junge Menschen ins Leben? Muss im Englisch-Buch immer eine Vater-Mutter-Kind-Familie abgebildet werden? Oder kann die nicht einmal anders aussehen? Zum anderen durch eine Sensibilisierung der Ermittlungsbehörden. Was passiert, wenn eine erkennbare trans*Person in der Polizeidienststelle einen Angriff anzeigen will? Wird das ernst genommen? Oder lacht man sich erst mal tot darüber, wie die eigentlich aussieht? Das mag in ganz vielen Fällen nicht so sein, aber allein, dass viele Betroffene diesen Eindruck haben, ist ein Problem. Einstellungsuntersuchungen können uns helfen, solche Diskriminierungsmuster konkret zu bekämpfen.

Können Sie als Promi noch locker in der Szene unterwegs sein und neue Bekanntschaften machen?

Wenn ich in Szenenkneipen unterwegs bin, überrascht das nur wenige. Auch in einer Stadt wie Berlin ist die Zahl der Lokalitäten letztlich begrenzt. Die üblichen Verdächtigen trifft man also immer wieder an den üblichen Orten, sei es im SchwuZ, im Melitta Sundström oder im Hafen. 

Der Bedarf für eine Tarnkappe besteht bei Ihnen nicht?

Nö. Ich bewege mich in der Berliner Szene seit gut 13 Jahren und kenne viele Leute seit langer Zeit. Da gibt es fast nie die Reaktion: «Oh, das ist Kevin Kühnert, den ich im Fernsehen gesehen habe!». Für die meisten bin ich einfach jemand, der mit ihnen da eben gemeinsam hineingewachsen ist. 

Die Gefahr, sich als Promi-Beute für Groupies wiederzufinden, gab es nie?  

Also das nehme ich jetzt überhaupt nicht so wahr, ehrlich gesagt.

Könnten Sie sich vorstellen, bei der Zurich Pride aufzutreten?
Das lohnte sich, nicht nur wegen der Nähe zu Ihren geliebten Bergen.

Die Zürcher Pride würde mich interessieren, klar! ||


Provokateur: Juso-Chef Kevin Kühnert 

«Kann Kevin Kanzler?», fragen sich viele, eine Frage, die sich laut dem 30-Jährigen «allein schon wegen der momentanen Parteistärke der SPD nicht aufdrängt». Für solche Spekulationen sei es ohnehin zu früh, sagt Kühnert: «Das wäre so, wie wenn man anfängt, als Jugendlicher Kart zu fahren und dann direkt sagt: Ich will mal Formel-1-Weltmeister werden.»

Vom «Time»-Magazin wurde Kühnert vor zwei Jahren als «Next Generation Leader» gekürt. Im März 2018 äusserte sich der Fussballfan öffentlich zu seiner Homosexualität. Er ist übrigens trotz seines Bekanntheitsgrads auf Tindr unterwegs. Ob Kühnert derzeit einen Freund hat, ist nicht bekannt.

Kevin Kühnert wurde am 1. Juli 1989 in West-Berlin geboren. 2005 trat er in die SPD ein und war von 2012 bis 2015 Landesvorsitzender der Jusos Berlin. Seit 2017 ist Kühnert Bundesvorsitzender der Jusos, und im Dezember 2019 wurde er mit beachtlichen 70,4 Prozent der Delegiertenstimmen zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD gewählt.

Wie sich das für einen Juso-Chef gehört, provoziert Kevin gewaltig. So schlug er beispielsweise vor, Grosskonzerne wie BMW zu kollektivieren.


Bild: Nadine Stegemann

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