Das grosse Frühlingserwachen

Studien zeigen, dass im Lenz die Libido zu dampfen beginnt und der Mensch sexuell aktiver wird.
Wenn draussen nach dem Winterschlaf die Natur ihre Kraft entfaltet, gibt es aber auch Männchen, die sich um den Nestbau kümmern und versuchen, sich einen neuen Partner anzulachen. 

Von Mark Baer

Sobald die Temperatur über 20 Grad steigt, die Vögel draussen vermehrt um die Wette zwitschern, die Blumen überall spriessen und sich die ersten Blätter an den Ästen zeigen, kommen auch bei uns Menschen Frühlingsgefühle hoch. Einige zeigen mehr Haut und andere stählen ihre Muskeln für die wärmere Jahreszeit. Oft geht es dabei darum, die Aufmerksamkeit seines Gegenübers auf sich zu ziehen. 

«Ich bin soo spitz!», hört man im Frühling immer wieder. Dass wir nach den Wintermonaten sexuell aktiver sind, zeigt auch eine Untersuchung der Universität Pittsburgh in den USA: Die Studie mit 400 Personen ergab, dass die Sexualität dieser Männer und Frauen im Frühling und Sommer am höchsten war. Eine weitere Studie des deutschen Max-Planck-Instituts für demografische Forschung mit 10‘000 Menschen zeigt, dass diese im Frühling und Sommer häufiger Dates hatten und auch öfters heirateten. Allerdings ist die Studienlage in diesem Bereich nicht eindeutig. Es gibt auch Untersuchungen, die keine jahreszeitlichen Schwankungen in der sexuellen Aktivität eruieren konnten. 

Der Paar- und Lebens-Coach Klaus Stephan ist kein Fan davon, alles dem Frühling zuzuschreiben oder die wärmere Jahreszeit für irgendwelche sexuellen Veränderungen in die Verantwortung zu nehmen. Sonst würden wir ja auch etwas Passendes für die anderen Jahreszeiten erfinden können, wie beispielsweise die «kuschelige Winterzeit». «Aber, und das ist sicher so, bringt der Frühling frische Energie, es wird heller, freundlicher, es wird grün und alles wächst», erklärt der Coach. Bei Menschen, die sowieso ein recht ausgeprägtes Sexualverhalten haben, sorge der Frühling sicher nochmals für einen Schub; «einfach, weil man die Energie mehr wahrnimmt und sich kraftvoller fühlt». 

Bei Personen hingegen, bei denen die sexuelle Aktivität eher im Hintergrund steht, gehe es auch sobald es wärmer wird, nicht sofort «frühlingsmässig» zur Sache. Alles in allem denkt der Fachdozent, der 25 Jahre in der Erwachsenenbildung tätig war, dass der Frühling ein kraftvolles und besseres Lebens-
gefühl auslöst, welches selbstverständlich zu mehr Lust und Sex führen könne.

Und tatsächlich, das vermehrte Sonnenlicht kann zu einem höheren Testosteronspiegel im männlichen Körper beitragen, was der Libido durchaus Beine machen kann. Mit dem Anstieg der Sonnenlichtdauer wird auch die Produktion von Vitamin D erhöht. Diese Ergänzungsstoffe sind wichtig für die Gesundheit von Knochen, Muskeln und für ein gut funktionierendes Immunsystem, was auch die Sexualität wiederum befeuern kann. 

Die wärmeren Temperaturen laden auch zu mehr Bewegung im Freien ein, was die Durchblutung und den Stoffwechsel ankurbelt. Generell kann die wieder erblühende Natur mit ihrer ganzen Pracht einen positiven Einfluss auf die Stimmung und das Wohlbefinden haben. 

«Grundsätzlich hat das Wetter selber wenig Einfluss auf unsere Libido», sagt der Psychotherapeut François Gremaud gegenüber DISPLAY. Auch im Winter könne man eine hohe Libido haben, beispielsweise während einer Ferienphase mit weniger Stress. «Das Problem liegt mehr daran, dass wir in Winterzeiten mehrheitlich drinnen leben und dadurch weniger Reize erhalten», bringt es der Fachmann auf den Punkt. 

Die Libido hänge mit unserer eigenen Lerngeschichte und unseren Assoziationen, wie beispielsweise Wärme, Sex, schönen und intensiven Erinnerungen zusammen. «Es geht um eine Assoziation mit einer fröhlichen Zeit und schönen Momenten.» Eine grosse Rolle spielten hier auch visuelle Reize, welche die männliche Libido vor allem beeinflussen würden. So kann beispielsweise eine legere Kleidung von einzelnen Typen im Frühling bei vielen Männern die Attraktivität und das sexuelle Verlangen durchaus erhöhen. «Gehen Männer im Frühling mehr aus, sehen sie mehr andere Männer, was die Libido reizen kann», sagt der Psychotherapeut, der seit 23 Jahren mit seinem Partner zusammen ist. Das Ganze habe mit einer Konditionierung zu tun. Es sei ein Zusammenspiel von Erinnerungen, positiven Emotionen und Gedanken, die als Motor für die Libido gelten. Dazu komme auch der Einfluss des Lichtes, das auf jeden Fall eine bewiesene positive Wirkung auf unsere Stimmung habe und sich sekundär auch auf die sexuelle Lust auswirken könne.

Laut François Gremaud ist die emotionale Ebene etwas kontrollierter als die Libido. «Der Wunsch nach der Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Lust, Zuwendung und vor allem Sicherheit führt Männer dazu, eine Beziehung zu suchen.» Wobei die Lust nicht unbedingt als sexuelle Lust verstanden werden müsse. Die Erfüllung dieses Grundbedürfnisses könne auch mit dem Frühling zusammenhängen. «Viele Männer sind zu diesem Zeitpunkt ebenfalls von einer sozialen Erwartung geprägt, dass eine Beziehung der (einzige) Weg zum Glück ist.» 

Hier sei die Auseinandersetzung mit sich selbst im Sinne von «Empowerment» empfehlenswert. Diese eigene Ermächtigung bedeute, ein Stressbewältigungsmodell aufzubauen, um ein Gleichgewicht mit sich selbst zu erreichen. Hier spricht der schwule Therapeut, der in Zürich und Winterthur praktiziert, von «Kongruenz».

Neben den erwähnten Grundbedürfnissen könne auch das Thema der Einsamkeit und der Isolierung dazu führen, dass Männer im Frühling einen Partner suchen; ganz im Sinne von «raus aus dem Winter und raus aus der Dunkelheit». Die Idee eines Neuanfangs zu Beginn des Jahres, wie zum Beispiel abzunehmen oder mehr Sport zu treiben, ist nach Einschätzung von Gremaud möglicherweise auch ein Einfluss unserer Sozialisierung. «Sicher ist, dass der Frühlingsbeginn für die Mehrheit der Leute eine fröhliche Zeit ist. Der Wunsch, diese Zeit zu teilen, führt dazu, dass Männer aktiver auf der Suche nach einem Partner sind».

Gerade Menschen, die meinen, dass eine Beziehung zum Leben dazugehört und das allein glücklich machende Rezept ist, unternehmen vor allem auch im Frühling immer wieder einen neuen Versuch, einen Partner zu finden. Dies bestätigt auch der Beziehungs- und Paar-Coach Klaus Stephan. Personen, die sowieso auf der Suche sind und eine feste Partnerschaft als «allein glücklich machend» ansehen, hätten jetzt auch wieder mehr Energie. Sie fühlten sich nach dem dunklen Winter besser und kraftvoller und meinten natürlich deshalb, dass jetzt im Frühling die ideale Zeit sei, um einen neuen Versuch zu starten.

Das Muster, das jeder in einer Beziehung leben sollte, sei bei den Gays aber weniger stark ausgeprägt als bei heterosexuellen Menschen: «Viele Schwule wissen, dass es nichts bringt, im Strom mit allen zu schwimmen», sagt der 59-Jährige. Für sie ändere sich deshalb auch im Frühling nichts. 

Sind queere Männer in dem Fall eher auf Sex konzentriert und wird dieser jetzt wieder intensiver praktiziert, möchten wir von Klaus Stephan noch wissen? «Die schwulen Männer, die einen speziellen Fokus auf ‘Outdoor-Sex` haben und diesen gerne geniessen, sind jetzt natürlich voller Vorfreude auf Wärme und auf mehr ‘Treiben’ im Aussenbereich.» Für Gays, welche dieses Vergnügen für sich nicht kennen, ändere sich natürlich nichts. «Wer Sex nur im Bett hat, der hat ja 365 Tage dasselbe zur Verfügung», sagt der Deutsche, der seit Jahrzehnten in Zürich lebt und im Seefeld seine Kund:innen berät.

Im Frühling haben wir ab und an auch mit unbeständigem Wetter und starken Temperaturschwankungen zu kämpfen, was bei einzelnen Personen den Kreislauf belasten, zu Kopfschmerzen und Erkältungen führen kann. Weiter gibt es Leute, die von einer Frühlingsmüdigkeit heimgesucht werden: Die Umstellung von Winter- auf Sommerzeit und die hormonellen Veränderungen im Körper können Müdigkeit oder gar eine Abgeschlagenheit hervorrufen, was bei gewissen Menschen Konzentrationsschwierigkeiten auslöst. Dazu kann auch noch der Heuschnupfen kommen, der zu juckenden Augen und einer laufenden Nase führt.

Der Frühling kann aber auch für Personen mit einer psychischen Vulnerabilität, zum Beispiel mit einer Neigung zur Depression, eine schwierige Zeit darstellen. Dies, weil das blühende (Auf-)Leben der anderen Menschen zu Traurigkeit und Einsamkeit führen kann. «Viele Männer leiden unter saisonaler Depression, geben ihre Kongruenz auf und befolgen, was andere von Ihnen verlangen», sagt der Psychotherapeut der Schweizer Psychologen FSP, François Gremaud. «Der Frühling ist ein neues Erwachen. Ich empfehle eine Förderung der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse nach Lust, Autonomie und männlicher Emanzipation.» Denn grundsätzlich gelte der Frühling als eine schöne Zeit, «in der Männer mehr Männer treffen und lieben wollen».    

Nemo: Endlich frei

«I gloube das bisch du». Damit hat Nemo sich mit 18 in die Herzen der Fans gesungen und landete auf Platz 4 der Schweizer Hitparade. Mittlerweile ist Nemo 24, lebt in Berlin, singt Englisch und bezeichnet sich als nicht-binär – eine eigentliche Befreiung. DISPLAY hat Nemo in einem Berliner Café vor dem grossen Abenteuer ESC getroffen.

Interview Josia Jourdan Bilder Ella Mettler