Queer as queer can be 

Olly Alexander tritt für UK am ESC an. Und eines ist klar: Sein Auftritt wird alles andere als brav. Der 33-Jährige verspricht eine sexy, gayle Show. DISPLAY hakte nach.

Interview Steffen Rüth

Olly Alexander (lacht): Ich lese wirklich sehr gerne. Wenn auch nicht so viel, wie ich eigentlich möchte. Hauptsächlich lese ich Romane.

Was für ein Buch liegt denn gerade auf deinem Nachttisch?

«The Dangers of Smoking in Bed» von Mariana Enriquez. In diesen Psycho-Horror-Kurzgeschichten geht es um eine Gruppe von etwas verlorenen Jugendlichen im Argentinien der Jetztzeit, ein bisschen gruselig. Davor habe ich mal wieder in den Aufzeichnungen des schwulen Kultregisseurs Derek Jarman geblättert, ihn bewundere ich sehr. Ausserdem habe ich dieses Jahr schon «The Unconsoled» von Kazuo Ishiguro gelesen, ein verdammt gutes Buch. 

Viel zum Lesen wirst du in den nächsten Wochen nicht kommen.

Da hast du absolut recht.

Du trittst beim ESC in diesem Jahr mit deinem Song «Dizzy» für Grossbritannien an. Ist das ein Lebenstraum, der gerade Wirklichkeit wird?

Ja, das ist es. Und gleichzeitig fühlt sich das Ganze immer noch sehr surreal an. Ich wuchs damit auf, den ESC zu gucken. Seit ich ein Kind war, liebe ich diese Show über alles. Im vergangenen Sommer warf ich meinen Hut in den Ring und sprach darüber, wie sehr ich es geniessen würde, mit einem meiner neuen Songs dort teilzunehmen. Einfach, weil das so ein einzigartiger Event ist. Ich liebe das Drama des Wettbewerbs, die Punktevergabe, die Spannung. Und natürlich ist der ESC auch eine grossartige Plattform, um mich und meinen Song vor der ganzen Welt zu präsentieren.   

Grossbritannien war nicht gerade erfolgreich in den letzten Jahren. Glaubst du, mal wieder für ein Erfolgserlebnis sorgen zu können?

He, ganz so schlecht sind wir auch nicht (lacht)! Erinnere dich an Sam Ryder, der hat das vor zwei Jahren supergut gemacht und wurde Zweiter, so lange ist das doch noch gar nicht her. Eurovision gibt es nun schon so lange, es gab da in meinem Land Hoch-, aber auch Tiefpunkte, doch alles in allem spüre ich eine neue Liebe, mindestens einen neuen Respekt, der Show gegenüber. Immer wieder entdecken neue Generationen den ESC, und die jungen Menschen jetzt, die sind ganz verrückt nach dieser irrsinnigen, wilden Show, den krassen Beiträgen und der ganzen Krassheit als solcher. Seit ich weiss, dass ich dieses Mal am Start bin, war mein oberstes Ziel, mit einem Song rauszukommen, auf den ich stolz sein kann.

Hast du «Dizzy» eigens für den ESC geschrieben?

Nein, das habe ich nicht. Ich habe den Song mit dem Produzenten Danny L Harle gemacht, und wir beide sind die grössten ESC-Fans, die man sich vorstellen kann. Wir nahmen Musik auf für mein neues Album und hatten es immer im Hinterkopf, dass wir mit einem der Stücke beim ESC vorstellig werden könnten. Und all das, was ich an der Show so liebe, das liebe ich auch an Popmusik an sich, das Emotionale, das Überlebensgrosse, das Dramatische. 

Das Video zu «Dizzy» spielt auf einem hohen Gebäude. Wo ist das?

Wir haben am Computer drei sich bewegende Plattformen kreiert, die erste ist einer Ruine nachempfunden, eine der Wüste, eine dem Dach eines Wolkenkratzers. So richtig hoch war das Ding nicht, aber schon hoch, ein bisschen Angst hatte ich da oben. 

Du trägst im Video unter anderem einen Rock. Wird das auch in Malmö dein Outfit sein?

Ich habe mich noch nicht festgelegt, was ich anziehen werde. Etwas Ikonisches und Fröhliches auf jeden Fall. 

Trägst du denn gerne Röcke?

Ja, total, aber wenn ich mich nicht täusche, ist das im Video gar kein Rock, sondern eher eine Baggy-Hose. Ab und zu trage ich aber Rock, ich empfinde das als äusserst befreiend.

Seit du deine Karriere vor zehn Jahren angefangen hast, scheint sich bei dir vieles darum zu drehen, dass du deine Freiheit innerhalb der Popmusik auslebst und hin und wieder auch die Grenzen etwas verschiebst.

Wow, das ist nett von dir. Ich versuche ganz gewiss, ein freier Geist zu sein und immer offen für Überraschendes zu bleiben. Und ich bewege mich in einem Umfeld, das mich ermutigt, ich selbst zu sein und meinen eigenen Ausdruck zu zelebrieren. Ich liebe es an Popmusik, dass sie mir die Lizenz dazu gibt, extrovertiert zu sein und die Sau rauszulassen. 

Warst du immer schon ein extrovertierter Mensch?

Nein, das möchte ich nicht behaupten. Ich kann mich auch immer noch nicht als besonders extrovertierten Menschen einstufen. Es ist nur so: Wenn ich auf der Bühne stehe oder wenn ich in der richtigen Stimmung bin, vielleicht nachts im Club, dann kann ich schon eine Rampensau sein. Überwiegend jedoch mag ich es gar nicht so sehr, das Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein.

Schwer zu glauben.

Ich weiss (lacht).

Wie befreiend war die Popmusik für dich persönlich? Du bist in der Schule gemobbt worden, hattest später auch Herausforderungen mit deiner mentalen Gesundheit zu bewältigen. War Pop ein Rettungsboot für deine Psyche?

Ja, voll und ganz. Ich hatte nie das Gefühl, als Schüler dazuzugehören. Die anderen haben mich mies behandelt, ich selbst fühlte mich anders als sie, da passte nichts zusammen. Währenddessen habe ich versucht, meine Identität und meine Sexualität herauszufinden. Popmusik war ein Safe Space, im Pop wurdest du dafür gefeiert, anders als die anderen zu sein. Künstler wie George Michael, David Bowie oder Prince waren diese Larger-than-Life-Charaktere, die anziehen konnten, was immer sie wollten und die in tausend verschiedene Rollen schlüpfen konnten. Als ich in Filmen spielte oder auf einer Bühne stand, musste ich nicht länger ich selbst sein. Sondern ich konnte mich in jemanden verwandeln, der grösser und mächtiger war als ich selbst. Das fühlte sich so an, als hätte ich plötzlich eine Superkraft.  

Und dann bist du unbesiegbar?

Die Augenblicke, in denen ich mich am stärksten und unverwundbarsten fühle, sind definitiv die Augenblicke auf der Bühne. 

Gab es einen Moment, in dem du deine Identität gefunden hast?

Einen spezifischen Moment gab es nicht. Das passierte langsam, nach und nach über mehrere Jahre. Je älter ich werde, desto mehr fühle ich mich in mir drin zuhause, desto weniger fremd komme ich mir selbst in dieser Welt vor.

Du sagst, du willst den ESC so schwul wie möglich machen mit «Dizzy» und mit deinem Auftritt. Kann denn der ESC überhaupt noch schwuler werden, als er längst schon ist?

Nein, ich glaube nicht, dass er das kann (lacht). Aber ich versuche es trotzdem.

War es denn das Queere, das dich als Kind schon zu diesem Musikwettbewerb hingezogen hat?

Unterschwellig ganz sicher.  Ich finde nicht, dass es so wahnsinnig überraschend ist, dass sich ein schwuler Junge in den ESC verliebt. Seit vielen Jahrzehnten wird da das queere Element zelebriert, was ja im Grossen und Ganzen noch immer eher selten ist, auch 2024. 

Der Song «Dizzy» dreht sich darum, wie du rausgehst ins Nachtleben und ein bisschen flirtest. Gibt es denn in deinem wirklichen Leben aktuell jemanden, der dich dizzy, also schwindelig, macht?

Oh ja, den gibt es. Ich habe einen Partner, den ich sehr, sehr liebe. 

Denkst du an ihn, wenn du «Dizzy» singst?

Na klar. Ich denke immer an ihn, sobald ich über die Liebe singe. Und sonst denke ich eigentlich auch ständig an ihn (lacht). Ich kann ihm für seine Unterstützung und für seine Liebe in den vergangenen Jahren gar nicht genug danken. Ich habe viel Musik gemacht, die sich um unerwiderte Liebe drehte oder darum, in einer Beziehung nicht so supertoll behandelt zu werden. Aber heute bin ich einfach irre glücklich, und das werde ich auch auf meinem nächsten Album zeigen.

Olly, etwas Ernstes: Du bist scharf kritisiert worden, als du einen offenen Brief der LGBTQ-Aktivistengruppe Voices4London mitunterzeichnet hast, der Israel unter anderem Apartheit und Genozid an der Bevölkerung im Gaza-Streifen vorwirft. Das ganze Klima ist eh schon politisch sehr aufgeladen, manche Länder forderten den Ausschluss Israels vom Wettbewerb, andere sagen, du sollst wegen deines pro-palästinensischen Bekenntnisses nicht teilnehmen. Hast du deine Haltung inzwischen überdacht? 

Nun, der Grund, warum ich den Brief unterschrieb, war der, dass ich einen Waffenstillstand und grundsätzlich das Ende der Kämpfe so schnell wie möglich erhoffe. Ich will einfach nur Frieden für die Bevölkerung beider Seiten. Es geht überhaupt nicht darum, den Terror der queerfeindlichen Hamas zu befürworten. Es geht um Frieden. Und ich denke, beim ESC wird es das Beste für mich sein, mich auf meinen Auftritt zu konzentrieren.   


Von Years & Years bis zu «It’s a Sin»

Der Sänger und Schauspieler Olly Alexander, geboren ausgerechnet in jenem englischen Ort Harrogate, in dem der Eurovision Song Contest 1982 ausgetragen wurde (es gewann die 17-jährige Deutsche Nicole mit ihrer Gitarre und dem Liedchen «Ein bisschen Frieden») hat in diesem Jahr die Ehre und das Vergnügen, sein Land in Malmö zu vertreten. Und zwar mit dem Song «Dizzy», einer toptheatralischen Popnummer, mit der Olly, 33 und bisher Sänger von Years & Years («King»), deren einzig verbliebenes Mitglied er am Schluss war, nun auch offiziell seine Solokarriere einläutet. In dem Song, der an Eighties-Sound im Stil der Pet Shop Boys erinnert, besingt Olly schwindlig machende Küsse und mehr. 

Olly ist nicht nur als Sänger, sondern auch als Schauspieler erfolgreich.
So brillierte er als lebenslustiger schwuler Teen in der Fernsehserie «It’s a Sin», benannt nach der legendären Gay-Hymne der Pet Shop Boys.


Interview Steffen Rüth
Bilder Richie Talboy

Nemo: Endlich frei

«I gloube das bisch du». Damit hat Nemo sich mit 18 in die Herzen der Fans gesungen und landete auf Platz 4 der Schweizer Hitparade. Mittlerweile ist Nemo 24, lebt in Berlin, singt Englisch und bezeichnet sich als nicht-binär – eine eigentliche Befreiung. DISPLAY hat Nemo in einem Berliner Café vor dem grossen Abenteuer ESC getroffen.

Interview Josia Jourdan Bilder Ella Mettler