Schmerzhaft aktuell: Berlin Alexanderplatz

In der Verfilmung von Alfred Döblins Roman wird aus dem grobschlächtigen Franz Biberkopf ein bildschöner Flüchtling aus Westafrika. DISPLAY sprach mit dem Regisseur Burhan Qurbani. Der Film kommt am 9. Juli ins Kino.

Interview Dieter Osswald

DISPLAY: Burhan Qurbani, «Berlin Alexanderplatz» zählte zu den Favoriten der Berlinale. Dennoch gingen Sie leer aus, und bei den Deutschen Filmpreisen gab’s «nur» fünf Lolas. Sind Festivals so ungerecht wie jene Wirklichkeit, die im Film geschildert wird?  
Burhan Qurbani: Ungerecht finde ich das nicht. Mich freut der Goldene Bär für das politische Drama «Es gibt kein Böses» aus dem Iran. 

Man könnte den Film als Mogelpackung verstehen: Ursprünglich wollten Sie ein Drama über Asylanten im Drogenpark drehen. Weil das nur wenige interessiert hätte, kamen Sie auf den Trick mit Döblin und seinem «Berlin Alexanderplatz»… 
Als Schwabe würde ich den Ausdruck «Gottesbscheisserle» für Maultaschen vorziehen: Das Fleisch ist im Teig versteckt, damit es in der Fastenzeit gegessen werden darf. 

In der Schule haben Sie bei Döblin kaum geglänzt. Ist die Verfilmung nun Ihre verspätete Reifeprüfung? 
Döblin hat mir damals tatsächlich meine Abitur-Note versaut. (Lacht) Für mich war es spannend, mich jetzt auf eine ganze andere Art mit Döblin auseinanderzusetzen. Döblin war wild. Seine Sprache ist aufregend und fesselnd. Wenn man jung ist und mit höherer Literatur zum ersten Mal in Kontakt kommt, kann man das noch nicht so richtig schätzen. 

Moderne Pietà: Mieze (Jella Haase) nimmt sich des Flüchtlings Francis (Welket Bungué) an.

Im Roman wird Franz Biberkopf als hässlich und dick beschrieben. Bei
Ihnen könnte der Francis, dargestellt von Welket Bungué, auch problemlos als Model durchgehen… 

Welket ist ein gut aussehender Mann. Aber ich beurteile das anders, weil ich die Schauspieler zunächst als Mensch wahrnehme. Wir haben nach einem Darsteller gesucht, der dieses Glitzern in den Augen besitzt. Ob hübsch oder nicht, Welket ist ein grossartiger Schauspieler mit einer enormen Leinwandpräsenz. Er kann sensibel sein und im nächsten Moment beängstigend.

Ihr Werk dauert drei Stunden. Weckt Überlänge beim Publikum keine Berührungsängste, zumal in schnellen Netflix-Zeiten?
Ich bin selbst ein Netflix-Kind und halte viel von diesen neuen Erzählformen der Streaming-Anbieter. Aber es ist ein enormer Unterschied, ob man sich etwas auf dem Fernseher anschaut oder gemeinsam mit anderen im Kino dieses Erlebnis teilt. Ich möchte das Publikum wieder hungrig machen auf lange Geschichten, in denen viele Aspekte vertieft werden können. Nach meiner Einschätzung hat unser Film keine Längen, ich wüsste auch gar nicht, wo man ihn hätte kürzen können. Ursprünglich hatten wir eine Spielzeit von fünf Stunden, die hat mein Editor Philipp Thomas dann auf knackige drei Stunden heruntergeschnitten.  

Trotz Mammut-Werk bleibt Zeit für kleine Anspielungen. Was hat es etwa mit der Telefonnummer von Reinhold zu tun, die ganz gross auf einem Zettel zu sehen ist?
Bei der Telefonnummer von Reinhold handelt es sich um ein «Easter Egg», einen heimlichen Hinweis auf den Roman. Solche Anspielungen finden sich immer wieder im Film. Seien es Autokennzeichen oder die Zahlen auf dem Sträflingsanzug von Frances. Auch der deutsche Pass, den er bekommt, hat eine kleine Überraschung: Sein Nachname Cabeza de castor ist das portugiesische Wort für Biberkopf.

Die Migranten im Film sind kriminell, auch Francis neigt zur Gewalt. Kann man sich solche politische Unkorrektheit leisten, wenn man, wie Sie, selbst einen Migrationshintergrund hat?
Eines unserer Vorbilder bei dem Projekt war «Scarface» von Brian de Palma. Darin geht es um einen kubanischen Flüchtling, der alles andere als gut ist. Trotzdem ist dieses Werk wichtig für die Filmgeschichte, weil es etwas über die Zerrissenheit in einem Land erzählt. Die Figur ist nicht positiv besetzt, dennoch leidet man mit ihr und versteht ihr Handeln. Solange wir nicht behaupten, die Kriminalität hätte etwas mit der Mentalität von Migranten zu tun, sondern zeigen, dass sie etwas mit den äusseren Umständen zu tun hat, finde ich diese Darstellung legitim.  ||

Qurbani und Döblin

Mit seinem dritten Spielfilm stemmte Burhan Qurbani, 39, die Verfilmung von Alfred Döblins Jahrhundertroman «Berlin Alexanderplatz». Er verlegt den Klassiker in das heutige Berlin. Aus Franz Biberkopf wird Francis, ein Flüchtling aus Westafrika. Der möchte ein guter Mensch sein. Doch die Verhältnisse lassen das nicht zu. 

Realisiert wurde das dreistündige Werk vom Ludwigsburger Produzenten Jochen Laube, mit dem Qurbani einst an der dortigen Filmakademie studierte. Und mit dem er vor sechs Jahren mit dem Neonazi-Drama «Wir sind jung. Wir sind stark.» bereits für Furore sorgte. 

Auch auf der Berlinale kam die moderne Romanverfilmung bei Presse und Publikum gleichermassen glänzend an. Trotz Favoritenrolle ging man bei der Bären-Verleihung leer aus. Dafür gab es elf Nominierungen für den Deutschen Filmpreis. Schliesslich gewann der Film fünf Lolas, unter anderem den Filmpreis in Silber.