«Vielfalt ist doch keine Gefahr, sondern etwas Wundervolles»

Nemo über die Zeit nach dem ESC, Nachtcluberfahrungen in Berlin, Liebe, Hass und die lebenslange Suche nach sich selbst.

Man kann nicht behaupten, dass Nemo die Sache mit dem Album überhastet angegangen wäre. Immerhin sind anderthalb Jahre vergangen seit dem überwältigenden Sieg beim ESC mit «The Code». Aber es ist auch nicht so, als wäre Nemo, vor 26 Jahren als Nemo Mettler in Biel geboren, in Vergessenheit geraten. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an «Arthouse», die Nemo – sehr geschickt – sowohl unterläuft als auch erfüllt.

Es gibt weniger Drama-Pop, als «The Code» hätte vermuten lassen, dafür eine temporeiche, extrovertierte und stark in Richtung Tanzfläche zielende Songsammlung, die mal an Madonna aus der «Vogue»-Phase, aber auch recht deutlich an den queeren Nullerjahre-Glamourpop von Mika («Hocus Pocus») oder den Scissor Sisters («Casanova») erinnert.

DISPLAY: Nemo, wo erreichen wir dich?
Nemo: Ich wohne seit dem Juni in Paris, nachdem es mich eher zufällig hierher verschlagen hat, weil ich mit dem Produzenten Liam Maye hier mein Album fertigstellen wollte. Nun bin ich seit vier Monaten hier und finde es sehr schön.

Was ist für dich das Besondere an der Stadt?
Mich fasziniert die Geschichte von Paris. Seit langer Zeit steht diese Stadt für Kultur aller Art – Musik, Film, visuelle Kunst, Fashion. All das kommt hier zusammen. Paris ist für mich ein Ort der Bewegung und der Begegnung. Die Innenstadt ist eher klein, man kommt auf engem Raum zusammen. Ich habe in Paris ein energetisches, schwer zu beschreibendes Lebensgefühl. Ich bin im Einklang mit dem Gefühl, das diese Stadt in mir auslöst.

Wohnst du richtig im Zentrum?
Ja, mittendrin. Wenn ich vor die Tür gehe, ist viel los, es gibt jede Menge kleine Läden und einen wunderschönen Essensmarkt ganz in der Nähe. Ich bin voll happy, wenn ich durch die Strassen flaniere.

Vorher hast du in London gelebt, auch Berlin war schon dein Zuhause. Auf deinem Album gibt es den Song «God Is a Raver», der an «Vogue» von Madonna erinnert. Generell ist dein Album rasant und cluborientiert. Hat Berlin dich das Raven gelehrt?
Ich würde mich trotz der Zeit in Berlin als eher moderat ravend bezeichnen. Auch im Berliner Nachtleben wusste ich noch, ob jetzt Samstag oder Montag ist. Aber ich merke: Überall auf der Welt, wo ich nun in einem Club lande, reicht das Erlebnis nicht ganz an Berlin ran. Vielleicht muss ich mal wieder nach Berlin kommen, um richtig Party zu machen.

Vermisst du sonst noch etwas aus deiner Berliner Zeit?
Vor allem die Begegnungen und Freundschaften, die dort entstanden sind. Aber Berlin ist auch so eine Übergangsstadt für viele Leute. Viele Menschen, die ich dort kennengelernt habe, leben nun selbst nicht mehr dort – inklusive mir. Trotzdem komme ich immer wieder supergern zurück.

Bleibst du nach deinen Nomadenjahren jetzt erst mal in Paris?
Ich suche nach einem Ort, an dem ich mich auch mal länger als sechs Monate niederlassen möchte. Das Leben aus dem Koffer bin ich leid. Ich möchte einen Ort finden, den ich zu einem richtigen Heim machen kann. Nach der Tournee werde ich das entscheiden. Im Moment sind Paris und London die Kandidaten.

Was ist mit Biel, deiner Schweizer Heimat?
Biel ist nicht der Ort, den ich im Moment zu meinem Lebensmittelpunkt machen will. Aber es ist ein Ort, an den es mich immer wieder zurückzieht. Meine Eltern leben dort, ich fühle mich Biel verbunden und kann da meine Batterien aufladen.

So wie du nach einem Platz suchst, an dem du dich niederlassen möchtest, erzählst du in «Unexplainable» über die Suche nach dir selbst. Hast du jetzt herausgefunden, wer Nemo ist?
Kann man das überhaupt jemals herausfinden? Ich glaube, dass diese Suche der essenziellste Teil des Lebens ist. Sich besser verstehen zu lernen, ist ein Prozess, den ich sehr schätze – sei es, was meine Musik betrifft, meine Identität oder meine Emotionen. Ich lerne jeden Tag dazu und hoffe, dass das immer so bleibt. Sonst würde mir wahrscheinlich schnell langweilig.

«Ich wundere mich, warum nicht alle Menschen erkennen, wie schön das Leben ist. Es ist doch keine Utopie, dass die Menschen offen, divers und einander anerkennend zusammenleben.»

Ist deine sexuelle Identität – nichtbinär und pansexuell – noch aktuell?
Ja, das ist sie. Aber ich merke, dass ich erst die Spitze des Eisbergs erreicht habe, was meine emotionale Welt betrifft. Ich habe weit mehr als 10’000 Stunden in meine Musik investiert. Dadurch hatte ich für andere Sachen vielleicht weniger Zeit. Jetzt fände ich es spannend, die nächsten 10’000 Stunden in Gespräche mit Freund*innen zu investieren, die gut im Umgang mit ihren Emotionen sind. Das mache ich auch – ob sie wollen oder nicht (lacht).

Denkst du, die Forschungsreise in die Tiefen deiner Gefühlswelt wird angenehm?
Ich denke, es wird angenehme und sehr unangenehme Momente geben. Alles gehört dazu. Bei mir war in den vergangenen zwei Jahren enorm viel los, und ich fand es schwierig, Sachen zu verarbeiten, weil keine Zeit dafür war oder ich mir diese Zeit nicht genommen habe. Irgendwann habe ich gemerkt: Ich gehe unter dem Druck verloren, wenn ich nicht anfange, mehr Zeit in mich selbst zu investieren.

Was hast du dann gemacht?
Zum Beispiel angefangen, mehr aufzuschreiben, Tagebuch zu führen.

Morgens oder abends?
Vor dem Schlafengehen. Das hilft mir sehr, den Tag zu verarbeiten, mich zu fokussieren und ein wenig die Gedanken einordnen und loslassen zu können. Oft verstehe ich meine Gedanken erst, wenn ich sie aufgeschrieben habe – vorher drehen sie sich nur im Kopf.

Schläfst du seither besser?
Ich habe schon immer gut geschlafen. Ich bin aktiv und verbrauche tagsüber enorm viel Energie, deshalb bin ich abends richtig müde.

 

Träumst du?
Ja, ich träume die unterschiedlichsten Dinge und versuche, meinen Träumen viel Raum zu lassen, weil die Inspiration auch aus den Träumen kommt. Ich freue mich auf die Überraschungen, die ich in meinen Träumen erlebe. Das ist wie Gratiskino. Wichtig ist, das Handy nicht neben dem Bett liegen zu haben, sonst steige ich zu schnell in den Tag ein und vergesse, was ich geträumt habe.

In einem Interview hast du gesagt, im Traum seist du eine Frau.
Das ist einer der Träume, die ich immer mal wieder habe. Diese Selbstverständlichkeit, in meinem Traum eine Frau zu sein, finde ich faszinierend. Ich habe schon die verschiedensten Träume gehabt, in denen ich ganz anders aussehe – femininer oder wie auch immer. Im Traum entscheide ich mich nicht, wer ich sein will. Ich ordne das auch nicht ein. Im Traum bin ich einfach.
Das Träumen ist ein zentraler Aspekt dabei, mein Unterbewusstsein zu entdecken und letztlich mich selbst besser zu verstehen.

«Ich will mit meiner Musik einen Ort der Gemeinschaft schaffen, an dem alle Leute willkommen sind und wo Unterschiede zelebriert und nicht abgelehnt werden.»

«Unexplainable» ist eine von wenigen Balladen auf deinem Album. Ansonsten gehen die Songs gut ab und zielen auf den Dancefloor. Hattest du ein klares Konzept für «Arthouse»?
Das Album lebt ein bisschen von der Zeit, in der wir uns befinden. Ich will mit «Arthouse» eine hoffnungsvolle Stimmung verbreiten. Die Kunst läuft in vielen Teilen der Welt Gefahr, kontrolliert oder zur Seite geschoben zu werden. Ich will mich diesem gefährlichen Trend widersetzen. Deshalb ist es mir wichtig, der Kunst einen Platz zu geben. Für mich ist Kunst eine Essenz des Lebens. Ich will mit meiner Musik einen Ort der Gemeinschaft schaffen, an dem alle Leute willkommen sind und wo Unterschiede zelebriert und nicht abgelehnt werden. Meine Konzerte sind Zusammenkünfte von Menschen, die sich dort aufgehoben, verstanden und so akzeptiert fühlen sollen, wie sie sind.

Auch du wurdest schon mit Anfeindungen und Hass, speziell in den sozialen Medien, konfrontiert.
Was hat dir dabei geholfen, nicht zu verzweifeln?
Mein Umfeld. Da fühle ich mich verstanden und aufgehoben und bin dankbar, wunderbare Menschen um mich zu haben. Ich wundere mich, warum nicht alle Menschen erkennen, wie schön das Leben ist. Es ist doch keine Utopie, dass die Menschen offen, divers und einander anerkennend zusammenleben. Vielfalt ist doch keine Gefahr, sondern etwas Wundervolles.

Du hast ein Konzert in der Ukraine gespielt. Was hat dich zu dieser nicht ungefährlichen Reise bewogen?
Ich habe Freund*innen in Kiew, und als das Angebot kam, musste ich nicht lange überlegen. Ich habe mich wahnsinnig gefreut, dass wir das dort machen und ich bekannte Gesichter sehen konnte. Wir sind von Warschau mit dem Zug nach Kiew gefahren.

Wie hast du die Stadt erlebt?
Kiew ist eine schöne Stadt – trotz des Krieges, trotz des ganzen Leids. Hoffentlich wird die Situation dort bald wieder so sein, dass es für alle selbstverständlich ist, nach Kiew zu reisen.

War mit diesem Konzert eine Botschaft verbunden?
Ich hatte einfach das Bedürfnis, den Menschen, die aus der Ukraine kommen und seit dem ESC zu meinem Freundeskreis zählen, etwas zurückzugeben. Zu sagen: «Hey, ich bin da, ich sehe euch, ihr seid mir wichtig.»

Du hast den ESC 2024 mit «The Code» gewonnen und bist danach vermutlich erst mal in so einen
monatelangen Tornado geraten, in dem du kaum noch nach Luft schnappen konntest, oder?
Dieser ganze Wettbewerb war schon eine aussergewöhnliche, manchmal auch seltsame Erfahrung. Man wird ins kalte Wasser geworfen, ohne dass man schwimmen kann – und dann lernt man es irgendwie. Tatsächlich fing der Wirbelsturm erst richtig an, nachdem ich in Malmö gewonnen hatte. Ich habe irrsinnig viel gelernt: über die Welt, über mich selbst, darüber, was es heisst, heutzutage Musik zu machen. Ich habe auch Fehler gemacht und daraus gelernt. Ich bin sehr dankbar, das alles erlebt haben zu dürfen.

Mit deinem Album hast du dir Zeit gelassen. «Arthouse» kommt anderthalb Jahre nach dem ESC. Wolltest du die Dinge nicht überstürzen?
Mein Terminkalender füllte sich von selbst – ich kam gar nicht mehr zum Musikmachen. Irgendwann war ein halbes Jahr Ausnahmezustand vorbei, und ich war immer noch auf Reisen mit diesem Song. Vielleicht hätte ich lieber nur ein, zwei Monate intensiv Promo machen und mich danach ins Studio zurückziehen sollen. Aber jetzt ist es auch egal. Ich denke, die achtzehn Monate haben meinem Album gutgetan.

Hast du deinem Wiener ESC-Nachfolger Johannes Pietsch alias JJ eigentlich Tipps gegeben?
Ich habe ihm geschrieben, dass ich ihm meine Hilfe anbiete und dass ich mich sehr über seinen Sieg gefreut habe. Sollte er sich mal unsicher fühlen oder einfach nur quatschen wollen, dann bin ich für ihn da. Mir ist wichtig, dass er das weiss.

Eine ESC-Sieger*innen-Selbsthilfegruppe sozusagen?
Die schadet ganz sicher nicht (lacht).   


Album: «Arthouse» – jetzt erhältlich.
Tourdaten: nemothings.com