Josia Jourdans Recherchen auf Dating-Apps. Teil 4: Der süsse private City Guide.
Illustration Leah Schnitzler
Ich lächle. Er hat endlich geschrieben. Es ist mein letzter Tag in Prag, der Goldenen Stadt, und ich bin glücklich. Diese Stadt tut mir gut. Trotzdem – morgen geht es weiter. Ich bin drei Monate auf Europareise allein mit dem Zug. Ich habe sogar wieder eine Dating-App runtergeladen, mit der ich nach spannenden Menschen suche, mit denen ich meine Freizeit verbringen kann. Morgen geht es nach Berlin, davor werde ich jedoch, wie es aussieht, eine private Stadttour von einem sehr süssen jungen Mann bekommen, der seit vielen Jahren in dieser Stadt lebt und sie liebt, wie bereits aus seinen Nachrichten lesbar ist. Er sieht gut aus auf seinen Bildern. Sein Blick hat etwas Geheimnisvolles, sowas mag ich. Ansonsten ist er dunkelhaarig, schlank, mittelgross und mit einem dunkleren Teint. Er sieht spannend aus und ich freue mich, ihn kennenzulernen.
Vor Russlands Homohass geflüchtet
Wir treffen uns am Ufer der Moldau. Er lächelt mich an. Um seinen Arm trägt er einen regenbogenfarbenen Jutebeutel. Wir begrüssen uns mit einer Umarmung, er beginnt sofort zu reden. Wir kommen ins Gespräch, tauschen uns aus. Dabei lächelt er immer wieder, aber er behält Distanz. Er ist aus Russland, ist da aber aufgrund von Studium und Homophobie weg und hat sich ein neues Leben in Tschechien aufgebaut. Er erzählt das alles so nebenbei, während er mir wunderschöne Strassen, kleine Fenster und Aussichtspunkte zeigt, an denen keine einzige Person ist. Er fordert mich auf, den Geräuschen aus den Fenstern zu lauschen. «Das ist das Prager Leben. Das echte. Da wohnen Menschen. Hörst du den Fernseher oder die Gespräche?»
Als wir auf einem Aussichtspunkt sind und Prag leuchtend unter uns liegt, beginnt er mit mir zu flirten, nennt mich hübsch, betont, wie schön er es findet, dass wir das hier gemeinsam tun. Ich frage ihn, ob das seine Masche ist. Er lächelt, verneint aber. Er freue sich einfach, jemandem seine liebste Stadt zu zeigen. Und das tut er durchaus auch ausführlich. Während wir Strassen betreten oder an Gebäuden vorbeigehen, zählt er mir historische und architektonische Fakten auf. Ich bin beeindruckt und versuche seinen Gedanken zu folgen, möchte eigentlich lieber etwas über die Kultur und Politik dieses Landes wissen, aber letzten Endes landet sein Gespräch immer wieder bei der Stadtplanung und Geschichte. Ich störe mich nicht wirklich daran. Es macht Spass. Er ist süss und die Energie zwischen uns ist spürbar.
Ich setze mich auf eine Bank, die inmitten von Wohnhäusern zwischen Bäumen steht. Er setzt sich neben mich. «Darf ich mich bei dir für diese wunderschöne Stadtführung bedanken?» frage ich, während ich mich vorbeuge und ihm auf die Lippen schaue. Er grinst verlegen und nickt. Wir küssen uns. Seine Lippen empfangen meine. Wir finden zueinander und spätestens da weiss ich, dass diese Nacht noch heiss wird. Ich bin leicht erregt, zufrieden und geniesse den Moment in dieser einzigartigen Stadt. Durch die Äste sehe ich den Sternenhimmel, vor uns brennt eine alte Strassenlaterne. Ich bin in Prag, kann es nicht ganz glauben und neben mir sitzt dieser unverschämt gut aussehende inoffizielle Stadtführer.
Perfekter Abschied von der Goldenen Stadt
Wir gehen weiter. Seine Tour ist noch nicht vorbei, wir gehen über die Karlsbrücke und er erzählt, dass er hier manchmal sitzt und Menschen beobachtet. «Wir sehen alle gleich und trotzdem so verschieden aus. Ich liebe es, die Gesichter zu beobachten und mir Geschichten zu überlegen».
Obwohl ich es verhindern möchte, überkommt mich Müdigkeit. Ihm scheint es ähnlich zu gehen, denn er lädt mich zu sich ein. Meint, dann könnte ich auch direkt von da auf meinen Zug am nächsten Morgen früh. Das klingt nach einem Plan. Ich bedanke mich mit einem Kuss und gemeinsam holen wir meine Koffer in meinem Hostel und machen uns auf den Weg in sein Studentenappartement. Dort dauert es nicht allzu lange, bis wir uns endlich nahekommen. Seine Hände sind stark, sein Griff hart, seine Jungenhaftigkeit verschwunden und als wir später nebeneinander liegen, flüstere ich: «Das war der perfekte Abschluss für diese Stadt».
Schläft er schon? Nein, er dreht sich um und küsst mich. Als sein Atem gleichmässig geht, füge ich hinzu: «Ich komme auf jeden Fall wieder zurück». Dann fallen auch mir die Augen zu. Am nächsten Morgen muss ich früh raus. Ich verabschiede mich kurz, er lächelt verschlafen, winkt mir zu, dann schläft er weiter und ich steige in den Zug nach Berlin. Auf zum nächsten Abenteuer.