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Sie haben alles verloren: Ihr Hab und Gut, ihre Heimat, ihre Freunde – und ihre Identität. Queers müssen in Flüchtlingscamps ihr wahres Selbst verstecken, um ihr Leben zu retten.

In der westlichen Welt ist ein Coming-out der erste und wichtigste Schritt im Leben. Ist das erst einmal geschafft, blühen wir auf und freuen uns an der Vielfalt queeren Lebens. Doch wie sieht es aus, wenn ein Coming-out noch das Geringste aller Probleme ist? Wenn das Leben am seidenen Faden hängt? Homosexualität im eigenen Land unter Todesstrafe steht und die Flucht vor Kriegswirren irgendwo in einem überfüllten Flüchtlingscamp endet? Sich mit der eigenen Sexualität und Geschlechtsidentität in einem Camp zu beschäftigen, ist wohl das Letzte, woran die Betroffenen denken. DISPLAY schaute genauer hin und sprach mit Prof. Dr. Udo Rauchfleisch, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP/PPB. Der Traumaspezialist hat selbst Flüchtlingscamps in Kurdistan besucht und arbeitet intensiv mit den dort ansässigen Therapeuten. Rauchfleisch erzählt  gleich zu Beginn, wie heterogen sich die Flüchtlingsgruppen alleine schon in den von ihm besuchten Camps Domiz2 und Shariya zusammensetzen:

«Wir haben im Moment Flüchtlinge aus drei Ländern. Zum einen im Camp Domiz2, vorwiegend aus dem Nordirak. Diese flüchten vor dem IS. Fast alle von ihnen haben
Familienangehörige verloren. Dann gibt es anderseits Flüchtlinge aus Syrien, die vor dem Assad-Regime flüchten. Und auch Flüchtlinge aus der Türkei. Viele sind Kurden, Jesiden und Muslime.»

Ein wahres Biotop multikulturellen Beisammenseins. Dass das Zusammenleben hier
alles andere als einfach ist, gerade für queere Personen, erfahre ich ebenfalls von Udo: 

«Im Vergleich zum Irak und Syrien, die Homosexualität als illegal mit schweren Strafen ahnden, ist in der Türkei mit gravierenden Schwierigkeiten im gesellschaftlichen und beruflichen Leben zu rechnen. Natürlich wird das Thema auch in den Camps totgeschwiegen.»

Da muss ein unglaublicher Druck auf den Betroffenen lasten, geht es mir durch den Kopf. Doch Udo relativiert das, wenn auch anders als erwartet:

«Diese Flüchtlinge leiden unter extremen Traumata. In den Camps leben sie zusätzlich auf engstem Raum miteinander. Da Männer sich nur zögerlich auf Traumatherapien einlassen, führt es dazu, dass Männer selbst erlebte Gewalt zur eigenen Bewältigung direkt an ihren Frauen und Kindern ausüben. Für queere Personen ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität da natürlich ausgeschlossen. Es bleibt auch hier die Tendenz zur Bewältigung des eigenen Leidens bei ausübender Gewalt bestehen. Ein Teufelskreis, der nur schwer durchbrochen werden kann.»

Diese Belastung ist auch für die Therapeuten nicht einfach zu ertragen und mein gefühlter beruflicher Stress kommt mir im Vergleich dazu unglaublich lächerlich vor. Gibt es denn auch schöne Erlebnisse?

«Als ein zehnjähriger Knabe aus dem Nordirak nach Hause kam, fand er seinen Vater mit abgeschlagenem Kopf zu Hause vor, umgebracht von Dschihadisten. Wenn dieser Bub nach intensiver Arbeit mit den Therapeuten nach langer Zeit wieder erste Worte spricht, dann ist das ein wunderbares Erlebnis und entschädigt ein Stück weit für die Gräueltaten, welche die Therapeuten täglich zu Ohren bekommen.»

Bei solchen Katastrophen versteht es sich von selbst, dass «queer» kein Thema ist. Doch das Schweigen zum Thema «queer», ist verheerend, gerade im Hinblick auf eine spätere Aufnahme im Westen.

«Der Grossteil dieser Flüchtlinge wird es nie nach Europa schaffen, was auch den Hilfswerken und ihren Mitarbeiter*innen bewusst ist, die diese Lager betreiben», so Udo. «Und die Flüchtenden, die es trotzdem schaffen, befinden sich nicht am Ziel, sondern am Anfang einer neuen Reise.»

Die Integration von Asylbewerbern und Flüchtlingen ist ein heikles Thema, das ist mir bewusst. «Zumindest Gays aus Ländern, in denen Homosexualität verboten ist, haben aber bessere Chancen, hier zu bleiben?»

«Nicht unbedingt. Das Totschweigen der Homosexualität im ursprünglichen Land und die fehlenden oder falschen Informationen über die europäische Kultur verhindern, dass diese Männer darüber reden, geschweige denn, sich outen. Auch hier in der Schweiz. Da Homosexualität bereits in ihrer Heimat abgelehnt wurde, erachten sie sie auch bei uns als Makel. Das führt dazu, dass bei Aufnahmegesprächen mit den Behörden in diesem Fall die wahren Fluchtgründe oft nicht oder erst spät erzählt werden. Eine drohende Abschiebung kann dann aber fast nicht mehr rückgängig gemacht werden.» 

Nun ist es ja nicht so, dass diese Menschen, wenn sie einmal bei uns sind, nicht betreut werden. Warum klappt es dann trotzdem nicht?

«Diese Personen haben ihr Leben unter Menschen gelebt, die alles Queere ablehnen. Gleichzeitig besteht auf Grund der erlebten Traumata eine enorme Angst vor weiterer Ablehnung. Wir können uns kaum vorstellen, wie viel Vertrauen diese Menschen brauchen, ein solches Thema auch nur anzusprechen. Da kommen auch Profis mit jahrelanger Erfahrung an ihre Grenzen.»

Gibt es denn Möglichkeiten, diese Personen zu unterstützen? Ich frage mich gerade, was ich dazu beitragen kann. Denn das Gespräch geht mir näher, als mir lieb ist.

«Was die Flüchtlinge betrifft, ist es wichtig, dass wir uns ihrer Ausgangslage bewusst sind. Die Schwächsten auszunutzen, das ist schnell passiert. Vor allem, weil sie ja vielleicht erst hier in der Schweiz den Kontakt zu Gays suchen. Leider oft im Verborgenen, was dem Missbrauch Tür und Tor öffnet. Hier sind wir alle gefragt, solchen Menschen mit unserer Liebe und unserem Verständnis zu begegnen und sie als gleichwertig zu akzeptieren.»

Das nehme ich mir zu Herzen. «Aber du, Udo, arbeitest ja auch mit den Therapeuten. Gibt es denn nicht auch da Möglichkeiten zur Unterstützung?»

«Ja, die gibt es. In Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen Verein ‹Khaima› versuchen wir an Spenden zu kommen, um das Buch ‹Narrative Exposure Therapy› vom Englischen ins Arabische übersetzen zu lassen und den Therapeuten vor Ort kostenlos zur Verfügung zu stellen. Damit haben Fachleute vor Ort die Möglichkeit, auch untereinander mit Hilfe einfacher Anleitungen Debriefings durchzuführen. Also besondere Ereignisse, die zu grosser seelischer Belastung führen, gemeinsam zu verarbeiten. Das Budget beträgt hierfür 15’000 Franken, wobei erst 9’500 Franken zusammengekommen sind.»

Schlimme Ereignisse gibt’s viele. Und ich erinnere mich daran, dass zahlreiche Zelte im Zeltlager Shariya im Juni 2021 abgebrannt sind. Aber natürlich ist es auch so, dass nicht jeder gleich spenden mag und trotzdem etwas beitragen möchte. An wen kann man sich denn wenden?

«Als erste Anlaufstelle empfehle ich Queer amnesty. Eine Gruppe von Amnesty International, die sich um Probleme von queeren Flüchtlingen kümmert. Die Organisation ist dankbar über jeden Menschen, der bereit ist, etwas von sich zu geben, um Betroffenen zu helfen. Queeramnesty kann dir auch weitere Kontaktadressen vermitteln.»

Das war jetzt ziemlich viel Information. Und die Geschichte vom Jungen geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wenn mich aber bereits eine solche Schilderung eines Experten schon nicht mehr loslässt, wie muss es
dann erst den Helfern vor Ort gehen? Von den Betroffenen gar nicht zu reden.

Einmal mehr wird mir bewusst, wie gut wir Queers es in der Schweiz haben. 

 


Khaima

«Khaima – Das beschützende» Zelt ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung von Selbsthilfe rund ums Krisengebiet in Syrien.
Insbesondere in den Bereichen Infrastruktur, Aus­bildung, (medizinische) Soforthilfe, persönliche Betreuung und Patenschaften. Der Verein arbeitet mit zahlreichen Partnern vor Ort zusammen und wird unter anderem auch von zahlreichen Kirchgemeinden im Kanton Zürich mitgetragen.
Die Webseite des Vereins: khaima.ch

Wer den Verein beim Buchprojekt für die Therapeuten in den Flüchtlingslagern unterstützen möchte, kann dies tun.
Eine Spende kann mit dem Vermerk «Buchprojekt» an die Alternative Bank Schweiz AG, 4601 Olten, BIC: ABSOCH22,
IBAN: CH83 0839 0037 1296 1000 0,
überwiesen werden.

Queeramnesty ist eine von rund 40 Themengruppen innerhalb von Amnesty International, die sich speziell mit Fragen im Bereich Menschenrechte, sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität beschäftigt.
Queeramnesty hat in der Schweiz zurzeit rund 650 Mitglieder und existiert seit 1997. Die Webseite der
Bewegung: queeramnesty.ch


Udo Rauchfleisch Prof. Dr. Udo Rauchfleisch ist einer der profiliertesten Psychologen im In- und Ausland. Neben seiner langjährigen Tätigkeit als inzwischen emeritierter Professor für klinische Psychologie an der Universitätsklinik in Basel hat er zahlreiche Schriften veröffentlicht und betreibt weiter seine eigene Praxis in Basel. 2011 wurde er mit dem Wissenschaftspreis der Margrit-Egnèr-Stiftung ausgezeichnet. Er ist auch Vorstandsmitglied im Verein Khaima.

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