Schwulsein vor dem Christentum

Europa zwischen Toleranz und Tabu.

Blicken wir heute auf Europa, denken wir oft an liberale Demokratien, in denen LGBTQ+-Rechte gesetzlich verankert sind und gleichgeschlechtliche Ehe, Pride-Paraden oder queere Repräsentation mehr oder weniger ohne grossen Widerstand zur gesellschaftlichen Realität gehören. Doch das war nicht immer so. Vor nicht allzu langer Zeit waren Homosexualität und queere Identitäten in fast allen europäischen Ländern kriminalisiert – ein Erbe des Christentums, das Homosexualität als Sünde, als «unnatürlich» und als moralischen Verfall brandmarkte.

Text José Kress

Doch was war davor? Was wissen wir über das Leben von Menschen, die gleichgeschlechtlich liebten oder sich ausserhalb des binären Geschlechtersystems bewegten – vor der Christianisierung Europas? Es war komplexer, als viele denken.

Davor herrschte Vielfalt

Bevor das politische Christentum Europa eroberte (das heisst, ein spezifischer Typ von Christentum, der sich auf politische Dominanz fokussierte), war der Kontinent ein Mosaik verschiedenster Kulturen, Völker und spiritueller Praktiken – von den Kelten im Westen bis zu den Skythen im Osten, von den Etruskern in Italien bis zu den germanischen Stämmen im Norden. Diese Gesellschaften hatten ganz unterschiedliche Vorstellungen von Sexualität, Geschlecht und Beziehungen – einige waren toleranter, andere restriktiver, aber selten dogmatisch.

Besonders gut dokumentiert ist die Situation im antiken Griechenland und im Römischen Reich – zwei Kulturen, die in ihrer jeweiligen Blütezeit gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht nur tolerierten, sondern in bestimmten Kontexten sogar idealisierten.

Griechenland: Liebe als pädagogisches Ideal

In der klassischen griechischen Welt war die Beziehung zwischen einem erwachsenen Mann (Erastes) und einem jüngeren Mann (Eromenos) Teil eines gesellschaftlichen Ideals. Diese Beziehungen waren pädagogisch, erotisch und sozial eingebettet. Philosophen wie Platon diskutierten die Liebe zwischen Männern in Werken wie dem Symposion – nicht etwa als Randerscheinung, sondern als ernstzunehmende Form von Bindung.

Gleichzeitig existierten sexuelle Beziehungen zwischen Frauen, wie etwa in den Gedichten der Lyrikerin Sappho von der Insel Lesbos. Zwar ist weniger über weibliche Homosexualität überliefert, doch Hinweise auf gleichgeschlechtliche Zuneigung zwischen Frauen sind eindeutig vorhanden. 

Achilleus verbindet den von einem Pfeil getroffenen Geliebten Patroklos. | Bild: Antikensammlung Berlin

Wichtig ist: Das griechische Verständnis von Sexualität basierte weniger auf festen Identitäten (wie «homosexuell» oder «heterosexuell») als auf sozialen Rollen, Alter und Status. Es war fluider, weniger moralisch aufgeladen – und vor allem: nicht von einer religiösen Instanz verboten.

Rom: Männlichkeit, Macht und Lust

Auch im Römischen Reich waren gleichgeschlechtliche Handlungen weit verbreitet – allerdings unter anderen Vorzeichen. Die römische Gesellschaft legte grossen Wert auf soziale Hierarchie und männliche Dominanz. Entscheidend war weniger das Geschlecht des Sexualpartners als die Rolle in der sexuellen Begegnung: Der aktive Part, der penetrierende Mann, galt als dominant und männlich – der passive hingegen als feminin und mitunter als gesellschaftlich minderwertig. Das kommt bestimmt vielen von uns auch noch heute bekannt vor. 

Trotzdem waren gleichgeschlechtliche Beziehungen kein Tabu. Kaiser wie Hadrian liebten offen Männer – Hadrians Beziehung zu Antinoos, der nach seinem Tod sogar zum Gott erhoben wurde, ist legendär. Auch Literatur, Fresken und Graffiti zeugen von einer vielfältigen sexuellen Kultur, in der queere Begehrensformen präsent waren – ohne die christlich geprägte Scham, Schuld oder Angst.

Kaiser Hadrian und sein Geliebter Antinoos.

Jenseits von Athen und Rom: Kelten, Germanen und andere Kulturen

Was aber war mit jenen Kulturen, über die wir weniger wissen – den Kelten, Germanen oder Slawen? Archäologische Funde und Berichte antiker Autoren deuten darauf hin, dass auch in diesen Gesellschaften gleichgeschlechtliche Handlungen bekannt waren – teils akzeptiert, teils sanktioniert, aber nie systematisch verfolgt wie später im christlichen Europa.

Zum Beispiel berichten römische Chronisten über die keltischen Männer, die sich geschminkt und «in Frauenkleidern» gezeigt hätten – was jedoch aus römischer Perspektive oft abwertend gemeint war. Gleichwohl zeigt sich: Vorstellungen von Geschlechteridentität und sexueller Praxis waren auch ausserhalb der Mittelmeerwelt vielfältig – sie wurden nur selten durch moralische Dogmen reguliert.

Christentum und die Pathologisierung der Homosexualität

Mit der Verbreitung des Christentums ab dem 4. Jahrhundert nach Christus änderte sich alles. Die Bibel – insbesondere das Alte Testament und die Paulusbriefe – wurde zur Grundlage für eine neue, rigide Sexualmoral, die auf Enthaltsamkeit, Fortpflanzung und Heterosexualität beruhte. Alles, was davon abwich, wurde zur Sünde erklärt. 

Diese rigide Sexualmoral gilt in der katholischen Kirche bis heute. Daran konnten auch die zaghaften Reformbestrebungen von Papst Franziskus wenig ändern.

Bereits im Jahr 390 n. Chr. wurden unter Kaiser Theodosius gleichgeschlechtliche Handlungen unter Todesstrafe gestellt. In der Folge entstanden kirchliche Gesetze und Strafvorschriften, die Homosexualität mit Tod, Folter oder Exkommunikation ahndeten.

Homophobie, wie wir sie heute kennen, entstand nicht im Altertum – sie ist ein Produkt religiöser Dogmen, kolonialer Machtstrukturen und politischer Kontrolle.

Die Entführung des schönen Jünglings Ganymed nach Rubens.

Von der Akzeptanz zur Auslöschung

Was vor dem Christentum als Teil menschlicher Erfahrung galt – sei es Liebe, Begehren oder geschlechtliche Vielfalt – wurde mit der Christianisierung Europas unsichtbar gemacht. Texte wurden vernichtet, Praktiken verboten, Lebensweisen kriminalisiert.

Und doch: Die Erinnerung ist nicht ganz ausgelöscht. In Mythen, literarischen Fragmenten, archäologischen Funden und der queeren Forschung der letzten Jahrzehnte lebt sie weiter.

Quelle / MythosHerkunftInhalt / Bedeutung
Achilleus und PatroklosGriechische AntikeEnge Beziehung zwischen den beiden Kriegern in Homers Ilias. Viele spätere Autoren – etwa Aischylos oder Platon – interpretierten sie als romantisch oder sexuell.
GanymedGriechische MythologieDer schöne trojanische Prinz wird von Zeus entführt und zum Geliebten der Götter gemacht – ein mythologisches Beispiel homoerotischer Liebe.
Symposion von PlatonKlassisches AthenPhilosophischer Dialog, in dem gleichgeschlechtliche Liebe als edle geistige Verbindung dargestellt wird – insbesondere zwischen Männern.
LokiNordische MythologieDer Gott Loki wechselt mehrfach das Geschlecht, gebiert sogar ein Kind. Genderfluidität wird hier nicht nur akzeptiert, sondern mythologisch überhöht.
Galloi (Kult um Kybele)Römisches Reich / AnatolienPriester der Göttin Kybele lebten in weiblichen Rollen, oft kastriert – frühe Beispiele nicht-binärer oder trans* Identitäten im religiösen Kontext.
Sappho von LesbosArchaisches GriechenlandDichterin, deren homoerotische Gedichte an Frauen als erste literarische Zeugnisse lesbischer Liebe gelten.
Kelten & DruidenGallien, BritannienÜberlieferungen und Mythen zeigen androgyn dargestellte Figuren und spirituelle Rollen jenseits binärer Geschlechtermodelle.
Ein Erastes umwirbt einen Eromenos und schenkt ihm einen Hasen.