DISPLAY-Interview mit Anna Rosenwasser über ihr neues Buch «Herz» und darüber, warum gerade auch männerliebende Männer dieses Buch lesen sollten.
Interview Sigmond Richli | Bilder Lea Reutimann
Ein rosa Buch mit einem rauen Einband, abwechselnd blaue und rosa Seiten und ein Herz auf dem Umschlag – das neue Buch von Anna Rosenwasser spielt mit Gegensätzen. So heisst das Buch zwar «Herz – Feministische Strategien und queere Hoffnung», thematisiert aber vor allem den vermeintlichen Kontrast zwischen Vernunft und Gefühl. Die Autorin plädiert für mehr Herz und dafür, Gefühl und Vernunft miteinander zu leben. Davon könnten auch schwule und bisexuelle Männer profitieren. Aber warum? Genau das habe ich Anna Rosenwasser im Interview gefragt.
DISPLAY: Anna, warum sollten auch männerliebende Männer dein neues Buch lesen?
Anna Rosenwasser: Weil es Dinge anspricht, die für alle gelten. Das Buch heisst «Herz», weil ich damit thematisieren will, dass Vernunft und Gefühl keine Gegensätze sind, sondern vereint werden können und müssen. Es geht auch viel um Männlichkeit und darum, dass feministische Gedanken für Männer hilfreich sein können, weil Feminismus allen Menschen ein freieres Leben ermöglicht. In meinem Buch geht es natürlich auch um gleichgeschlechtliche Liebe und welche Normen da bestehen, auch bei männlicher Homo- und Bisexualität.
Feminismus ist also auch für Männer?
Ich glaube, es ist ein Missverständnis, dass Queerfeminismus nur für Frauen und queere Menschen ist, die ganz fest von der Norm abweichen. Es geht gerade darum, dass eine Befreiung von Normen allen Menschen hilft, auch jenen, die den Normen stark entsprechen.
«Was wird mir alles verwehrt, weil ich eine Frau bin? Und – unironisch – was wird Männern verwehrt, weil sie Männer sind? Und wie viele von uns unterdrücken, dass sie weibliche Anteile, männliche Anteile und Anteile in sich haben, die aus diesen Geschlechterkategorien rausfallen?
Das anzuerkennen, ist ein schmerzhafter Prozess. Er ist nicht schön, er glitzert nicht in Regenbogenfarben. Er ist schmerzhaft und dauert, so wie die meisten Trauerprozesse schmerzhaft und lange sind. Und auch Trauer überfordert.»
(«Herz», Seite 52f.)
Ich habe ein heissgeliebtes rosa Sofa zu Hause. Wahrscheinlich lieben viele Männer diese Farbe, zeigen es aber nicht, weil das eben nicht der Norm entspricht.
Ja, genau wie die Farbe rosa nicht nur für Frauen ist, so sind die Inhalte meines Buches nicht nur für Frauen.
«Menschen, die aus der Norm fallen, spiegeln uns oft die eigenen unbewussten Unfreiheiten. Wir wachsen mit der vermeintlichen Sicherheit auf, dass es Mann und Frau gibt, dass beides eindeutig und unveränderlich ist und dass sie als Gegenteile zusammengehören. Die traditionellen Erwartungen an diese beiden Geschlechter schaden nicht nur denjenigen, die queer aus den Kategorien rausfallen, sie schränken auch diejenigen ein, die als ‹normal› gelten.» («Herz», Seite 50)
Im Untertitel erwähnst du feministische Strategien. Was ist darunter zu verstehen?
Für mich sind feministische Strategien solche, die im Leben weiterhelfen. Wie etwa sich bewusst zu werden, dass wir nicht alleine für alle Fehler verantwortlich sind. So können wir unsere Lebensbedingungen anschauen und herausfinden, wie und warum wir manchmal scheitern und dann Strategien entwickeln, wie wir weniger scheitern können.
«Niemand von uns kann sich entscheiden, nicht überfordert zu sein. Aber wir können uns entscheiden, was wir mit dieser Überforderung anstellen. Wir können überfordert sein und ablehnend – oder überfordert und neugierig. Überfordert und offen. Überfordert und trotzdem da, aus Trotz, aus Glaube an das Gute.» («Herz», S. 53)

Sind diese Strategien auch für männerliebende Männer?
Viele feministische Strategien betreffen Solidarität, vor allem queere Solidarität. In Gruppen mit sehr unterschiedlichen Menschen können diese Strategien helfen, sich zu verbünden. Deswegen ist es auch wichtig, dass männerliebende Männer sie anwenden. Die männerliebende Community besteht ja auch aus sehr unterschiedlichen Menschen, und da ist Verbundenheit wichtig und hilfreich. Es gibt auch ein Kapitel darüber, wie man auf eine solidarische Weise mehr Raum einnehmen kann. Diese Strategie kann allen Geschlechtern helfen.
Du sprichst im Buch auch die Strategie der Hoffnung an, und Hoffnung könnten wir momentan alle gut gebrauchen. Kannst du mehr dazu sagen?
Es geht darum, wie man hoffen kann, ohne einfach in eine naive Positivität zu verfallen. Mit Hoffnung kann man zum Beispiel aus dem Gefühl der Ohnmacht herauskommen und wieder handlungsfähig werden. Dass dies gelingt, wünsche ich jedem Menschen, egal welchen Geschlechts.
«Ich glaube, Hoffnung bedingt, dass wir alle diese Gründe zur Verzweiflung durchleben. Die Angst, die Wut, die Trauer, jeden Scheiss, der uns ein Leben lang begleitet und so anstrengend und vermeintlich unmöglich ist, zu durchfühlen. Anstatt all das zu verdrängen, müssen wir uns der Aufgabe stellen, durch diese Gefühle hindurchzugehen, sie zu fühlen. Sonst werden sie grösser. Und überwältigen uns langfristig.» («Herz», Seite 207)
Ein Beispiel für Ohnmacht wären Übergriffe. Sexualisierte Gewalt unter schwulen und bisexuellen Männern ist leider weit verbreitet. Freunde von mir gehen nicht mehr an schwule Partys, weil sie die Belästigungen satthaben. Wie kann man da wieder handlungsfähig werden?
Im Buch geht es um verschiedene Formen von Übergriffigkeit und Grenzüberschreitungen, und da dies leider auch männerliebende Männer betrifft, können die Strategien des Buches hilfreich sein. Solche Vorfälle werden oft heruntergespielt und die Betroffenen nehmen sie aus einer Resignation heraus hin. Aber ich bin überzeugt, dass der erste wichtige Schritt ist, anzuerkennen, dass etwas passiert ist, das meine persönlichen Grenzen verletzt hat, es als grenzüberschreitendes Verhalten zu benennen und auch, dass es nicht OK war! Was ich deswegen männerliebenden Männern raten würde, ist, genau das zu tun. Dazu gehört auch, andere Menschen dafür zu sensibilisieren. Alle Menschen haben ein Recht darauf, selbst bestimmen zu können, wer sie berühren oder sie nur schon kommentieren darf.
Es gibt selten Awareness-Konzepte an schwulen Partys. Das könnte sich ändern, aber dazu müsste man(n) aktiv werden.
Ja, genau! In «Herz» geht es auch darum, wie wir aktiv werden können, wie wir uns zusammenschliessen und Strategien entwickeln können, um an Strukturen etwas zu ändern, damit zum Beispiel übergriffiges Verhalten an solchen Veranstaltungen nicht mehr toleriert wird.
«Womöglich denkt sich die eine oder der andere beim Lesen, dass die Lösung darin liegt, sich eine dicke Haut zuzulegen. If you can’t handle the heat, stay out of the kitchen. Solange meine männlichen Kollegen es in der Küche mit Hitze, meine Kolleginnen aber mit Angriffen zu tun haben, will ich nicht, dass die Kolleginnen die Küche verlassen, sondern dass die Küche sicherer wird.» («Herz», Seite 99)
Was könnten und sollten schwule und bisexuelle Männer vom Feminismus noch lernen?
Uns Queers wird oft gesagt, dass wir irgendwie auf eine falsche Weise Frauen oder Männer, queer, schwul oder lesbisch sind – und oft übernehmen auch wir dieses Denken. Auch wir haben das Gefühl, es gäbe eine richtige oder falsche Art zu sein. Wir lehnen andere Arten von gelebten Männlichkeiten oder Weiblichkeiten ab, um damit uns selbst aufwerten zu können. Aber damit reproduzieren wir gerade, was uns früher auch passiert ist und unter dem wir gelitten haben, nämlich, dass es eine richtige Art gibt, Männer oder Frauen zu sein. Solche Dinge sind aber menschlich und wir müssen sie uns abtrainieren. Deswegen habe ich zum Beispiel einen Text im Buch, der von Tussis handelt, um zu zeigen, dass ich mir selbst auch die Abwertung gewisser Formen von Weiblichkeit abtrainieren muss.
Du sprichst in deinem Buch oft von Solidarität und davon, dass Menschen zueinander mehr Sorge tragen sollten.
Solidarität heisst auch, andere Menschen nicht aufgrund ihres Lebensweges abzuwerten, sondern co-existieren zu lassen. Dazu gehört, dass man einen Blick für unterschiedliche Lebensrealitäten entwickelt und wie sich daraus Ungerechtigkeiten entwickeln können.
Wenn wir uns mehr Sorge tragen würden, dann ginge es uns allen vielleicht auch besser. Du sprichst auch das Thema psychische Gesundheit an.
In feministischen Bewegungen ist ein Verstehen von psychischer Gesundheit und das sich selbst und gegenseitig Sorge-Tragen mega wichtig. Ich würde mir wünschen, dass auch Männer sich mehr darum bemühen, denn auch männerliebende Männer bewegen sich in einer queerfeindlichen Welt, und da kann gegenseitige Unterstützung und auf sich selbst achtzugeben, doch nur helfen!
«Männer haben eine besonders hohe Suizidrate. Eine der Erklärungen hierfür lautet: Männern wird so wenig Trauer und Angst zugestanden, dass sie keine professionelle Hilfe suchen, wenn sie mit psychischen Belastungen konfrontiert sind. Also greifen sie zur einzigen Emotion, die noch übrigbleibt: Wut. Und weil zu unserem gesellschaftlichen Konzept von Männlichkeit auch keine gesunde Wut gehört, wird sie zu Gewalt. Gegen andere oder, als vermeintlich letzter Ausweg, gegen sich selbst. Das ist einer der vielen Gründe, warum ich glaube, dass eine feministische Welt auch zu gesünderen, glücklicheren und überhaupt lebendigeren Männern führen würde. Nicht nur wären sie freier, herauszufinden, was Mannsein für sie heisst. Sie erhielten auch besseren Zugang zu ihren Gefühlen, wie Trauer und Angst, und eben auch zu ihrer Wut. Und damit zu anderen Formen von Wut als Aggression.» («Herz», Seite 142f.)
In den USA äussern sich manche konservative schwule Männer dazu, dass die Rechte von trans Menschen nicht ihre Angelegenheit seien. Was haben diese Männer nicht verstanden?
Das ist ein gefährlicher Mechanismus, der auch historisch belegt ist. Wenn unterdrückte Gruppen für die eigenen Rechte kämpfen, dann entsolidarisieren sie sich häufig von anderen Gruppen, die noch weniger Rechte haben. Das tun sie, damit sie mehrheitsfähig werden. Dies ist wahnsinnig gefährlich und genau das, was Rechtspopulismus und faschistoide Regierungen möchten. Aber der grosse Denkfehler in dem Ganzen ist, wenn eine Gruppe von uns angegriffen wird, werden alle queeren Menschen angegriffen. Die Beschneidung der Rechte endet nicht bei trans Menschen. Schliesslich geht es darum, die Identität von Menschen zu kontrollieren, um wieder ein traditionell christliches Bild von Weiblichkeit und Männlichkeit zu stärken und die Rechte aller, die diesem Bild nicht entsprechen, wegzunehmen.
Heisst das, als nächstes könnte plötzlich die Ehe für alle wieder zur Debatte stehen?
Nach trans Menschen wird es weitergehen, ja, und gleichgeschlechtlich liebende Menschen betreffen. Deswegen gibt es neben altruistischen Gründen auch den Grund, für die Rechte anderer einzustehen, weil man die eigenen Rechte schützen will. Denn letztlich geht es um das Recht auf Selbstbestimmung, und zwar über den eigenen Körper und um die Lebensweise jenseits einer cis hetero Norm. Das betrifft uns alle.
Denkst du, Männer haben einfach zu wenig Herz?
Nein! Und das ist das Tragische! Jeder Mensch kommt mit allen Fähigkeiten zur Welt, die ihm ein Herz gibt! Zu lieben, jemanden zu mögen, solidarisch zu sein, Liebe anzunehmen oder empathisch zu sein. Es ist ein riesiges Missverständnis, dass Männer das weniger gut können sollen als Frauen. Ihnen werden im Verlauf des Lebens diese Fähigkeiten abtrainiert und es wird ihnen eingeredet, sie seien rationale und gefühlslose Wesen. Das ist ein riesiger Blödsinn! Jeder Mensch kann unabhängig des Geschlechts ganz viel Herz haben. Aber das bedingt, dass er darüber nachdenkt, wann und warum ihm in seinem Leben die Herz-Fähigkeiten abgesprochen wurden.
Ich bin überzeugt davon, dass ich ein rosa Herz habe. Und du?
Hier geht’s zum Rotpunktverlag
Herz – Feministische Strategien und queere Hoffnung.
Rotpunktverlag Zürich 2025,
240 Seiten Ca. 30 CHF
