Hallo Tim
Ich liebe es, von anderen bewundert zu werden. Aber bin ich deswegen ein Narzisst, wie mir immer mal wieder unterstellt wird?
Maurice (45-jährig)
Hallo Maurice
Wer wird schon nicht gerne bewundert? Die allermeisten mögen anerkennende Worte, Blicke oder Gesten der Zustimmung. Darin liegt grundsätzlich nichts Krankhaftes.
Die übersteigerte Form der Selbstverliebtheit kann allerdings tatsächlich auf eine krankhaft narzisstische Persönlichkeit hinweisen. Eine solche ist unentwegt auf Bestätigung oder besser noch auf Bewunderung angewiesen. Fällt diese nur spärlich aus oder über eine gewisse Zeit ganz weg, wird es für den Narzissten sehr eng. Es drohen aggressive oder depressive Reaktionen seinerseits.
Nervende Dauerbeleidigte
Sehr schlecht kann ein Narzisst ausserdem mit Kritik umgehen. Diese nimmt er stets persönlich und ist daher schnell gekränkt. Ein besonders krasses Beispiel für dieses Verhalten ist der abgewählte US-Präsident Donald Trump.
All dies macht den Umgang mit ihm für Menschen in seinem Umfeld anstrengend. Viele werden früher oder später über sein Verhalten ärgerlich und wenden sich von ihm ab. Ebendies erlebt der Narzisst dann wiederum als unerhörte Kränkung und verbarrikadiert sich noch stärker in seinem aufgeblähten Luftschloss. Wir sehen dieses Verhalten deutlich an der Weigerung Trumps, die Tatsache seiner Nicht-Wiederwahl zu akzeptieren.
Die Wurzeln von Narzissmus liegen in der kindlichen Entwicklung, bedingen aber darüber hinaus eine entsprechende genetische Veranlagung.
«Viele Eltern loben ihre Sprösslinge geradezu inflationär für jeden Pipifax»
Wird ein Kind von seinen Eltern oder weiteren nahen Bezugspersonen zu wenig beachtet und kaum für seine Leistung gelobt, wird es sich minderwertig fühlen. In der Folge wird es sich entweder innerlich zurückziehen und vielleicht gar depressiv werden. Oder aber es kompensiert sein schlechtes Selbstwertgefühl in Form eines übersteigerten Narzissmus.
Unverdientes Lob
Vor allem noch bis in die 1960er und 70er-Jahre hinein erzog man Kinder oft ohne sie genügend zu bestätigen. Später kippte der Erziehungsstil ins Gegenteil. Viele Eltern lobten fortan ihre Sprösslinge geradezu inflationär für jeden Pipifax. Sie glauben, damit ihren Kindern Gutes angedeihen zu lassen. Und nicht wenige betrachten sie – jenseits objektiver Grundlagen – gar als hochbegabt. So ist es nicht verwunderlich, dass solche Kinder sich in der Folge als Zentrum des Universums betrachten. Werden sie dann in der Schule und später im Beruf an ihren realen Leistungen gemessen, sind sie oft überfordert und scheitern nicht selten.
Wie bei allen Persönlichkeitsfaktoren gibt es auch bezüglich Narzissmus kein Schwarz-Weiss-Schema. Es gibt also nicht die «Gesunden» auf der einen und die «Kranken» auf der anderen Seite. Vielmehr sind die Übergänge fliessend.
Narzissmus ist statistisch gesehen eine normalverteilte Variable, was bedeutet, dass die meisten Menschen ein gewisses Mass, man könnte auch sagen: ein «gesundes» Mass, an Narzissmus in sich tragen.
Oft gekränkt
Wenn du dich nun fragst, ob du ein Narzisst im krankhaften Sinne bist, beobachte dich in deiner Kränkbarkeit. Bist du häufig gekränkt, könntest du mithilfe professioneller Aufarbeitung Gegensteuer geben und sodann wesentlich freier leben.
Herzlich, Tim

und Buchautor.
Tim Wiesendanger steht dir für Fragen gerne zur Verfügung.
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Bild: Amir Kaljikovic