Hallo Tim. Ist es eigentlich normal, dass man ab 45 keinen Bock mehr auf Sex hat? Bei mir liegt dieses Bedürfnis jedenfalls seit zehn Jahren brach. So habe ich weder mit meinem langjährigen Partner, noch mit anderen Männern mehr Sex. Fehlt mir etwas? Thomas (55)
Hallo Thomas
«Normal» ist kein eindeutiger Begriff. Meinst du damit die statistische Norm, also dass Menschen ab einem gewissen Alter weniger Sex haben? Oder meinst du die Gesellschaftsfähigkeit im Sinne, ob es schicklich ist, im Alter noch sexorientiert zu sein? Oder meinst du eine zwangsläufige Konsequenz, nämlich dass man ab 45 mit jedem Jahr unweigerlich weniger Bock hat?
Tatsächlich nimmt beim durchschnittlichen Menschen die Häufigkeit an Sexualkontakten mit seinem Alter ab. So gesehen gibt es durchaus einen statistischen Zusammenhang. Und ja, dies wird in der traditionellen Gesellschaftsordnung erwartet. Hingegen nein, dieser Zusammenhang ist überhaupt nicht zwangsläufig gegeben. Und das ist sehr gut so!
Denken Männer nur ans Eine?
Gerade wir schwulen Männer haben hierbei schon mal einen sprichwörtlichen Vorteil. Dieser leitet sich aus dem Vorurteil ab, dass Männer ja sowieso nur immer an das Eine denken, also an Sex. Und da beim schwulen Sex per definitionem Mann auf Mann stösst, geht bei ihnen die Post natürlich richtig ab.
Im Weiteren haben wir schwulen Männer dank der jahrzehntelang erkämpften Emanzipation lusttötende gesellschaftliche Normen selbstbewusst überwunden. Daher gilt: Ist der Ruf erst mal ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert. Also muss sich niemand wundern, wenn schwule Männer auch noch im reifen Alter ihrer Sexualität leidenschaftlich frönen.
Wieso legen aber doch gewisse schwule Männer bereits in ihren 40ern oder 50ern Sex ad acta? Nicht wenige leben in monogamen Partnerschaften, die den Anspruch auf Ausschliesslichkeit auch dann noch aufrechterhalten, wenn zwischen den beiden gar nichts mehr oder kaum noch etwas läuft. Dieser selbstgewählte Lockdown hat den Preis, dass oft auch grundsätzlich die Lust an Sex verblasst. Ausser man hält sich mit Selbstbefriedigung fit oder gönnt sich doch was für zwischendurch…
Sexualität will jedenfalls gelebt werden, wenn sie lebendig bleiben soll. Genauso wie eine erlernte Fremdsprache angewendet werden soll, wenn man sie nicht verlieren will. Oder wie Muskeln erschlaffen, wenn man sie nicht trainiert.
Eine Frage des Trainings
Use it or lose it! So lautet also auch beim Sex die Devise. Dabei sind Menschen, die schon immer Freude an Sex hatten, eindeutig im Vorteil. Genauso wie Menschen, die schon immer Freude am Sport oder an Fremdsprachen hatten, einen Verlust dieser Kompetenzen stark bedauern würden. Sie trainieren demzufolge ihre Muskeln – im konkreten und im übertragenen Sinne – auch eher weiterhin und mit Freude.
Wenn du nicht bedauerst, dass deine Sexualität eingeschlafen ist, brauchst du dich auch nicht um sie zu bemühen. Für alle anderen – und selbstverständlich auch für wiedererwachende Spätzünder – aber soll gelten: Halte dich fit! Geiler Sex kann selbstverständlich auch Ü45 grossen Spass bereiten. Oft ist er sogar noch um einiges genussvoller, kennt Mann doch seine wahren Bedürfnisse durch langjährige Erfahrungen noch viel besser als mit 20 oder 30.
Herzlich, Tim

Tim Wiesendanger:
Befreiter schwuler
Eros – Unbewusstes
beim Sex. BoD, 2014.

Dr. phil. Psychotherapeut FSP und Buchautor. Praxisgemeinschaft Oberstrass Zürich.
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