Douze points pour la folie

Je oller, desto doller: Gib mir Glitzer, Gays und Gaga-Songs, denn dafür wurde der Eurovision Song Contest gemacht! Ich fordere ein Verbot von Balladen und allem, was irgendwie ernst gemeint ist.

Von Frank Richter

Schrille Kostüme, bunte Farben, schräge Töne – der ESC ist wie die Street Parade, einfach ohne LSD. Genau so will ich das. Wenn ich den Eurovision Song Contest gucke, erwarte ich die komplette Freakshow. Ich will Frauen, die lasziv Butter stampfen, während ihre eingeölten Brüste beinahe aus dem Dirndl hüpfen. Ich will als Werwolf verkleidete Männer, die rhythmisch tanzend Bananen und Grossmütter besingen. Ich will androgyne Feen, die auf eine E-Gitarre eindreschen, als hätte Satan Besitz von ihrem Körper ergriffen.

Was ich hingegen nicht will, sind Popsongs. Radio-Energy-Mitklatschnummern, die komponiert wurden, um im Stau stehende Aargauer vom Suizid abzuhalten. Und Balladen, die braucht auch kein Mensch. Jawohl, dieser ausgestreckte Mittelfinger geht in Richtung Frankreich. Klar, ihr habt Sänger:innen mit gewaltigen Stimmorganen und könnt einen Dreiminüter in Moll komponieren, dass einem die Tränen sturzbachmässig die Kimme runterströmen. Aber ganz ehrlich, wenn ich Hintergrundberieselung zum Ritzen suche, lass ich irgendwas von Céline Dion laufen. 

Nussecken und Himbeereis

Als Kind musste ich den ESC mit meinen Eltern gucken. Ich fand ihn sterbenslangweilig. Menschen sangen in Sprachen, die ich nicht verstand und trugen dabei Föhnfrisuren, die ich noch weniger verstand. Dann ein Abstimmungsprozedere, das kein Ende nahm. 

Doch 1998 erfolgte ein Lichtblick. Stefan Raab machte den ESC Gaga. Also eigentlich nicht er, sondern ein Mittdreissiger mit schütterem Haar. 

Er sang in einem türkisenen Anzug mit Schlaghosen: «Guildo hat euch lieb.» Als er ins Publikum rannte, gab es kein Halten mehr. Die zuvor höchstens schunkelnden Menschen standen auf, klatschten und tanzten frenetisch mit. Guildo Horn kletterte die Bühnendeko empor und sang sich direkt in mein Herz. Was für ein beknackter Song, was für ein verrückter Typ, aber vor allem, was für eine wahnsinnige Partystimmung. Mein Kollege Fabian und ich riefen im Anschluss 25 Mal für Deutschland an und schenkten dem Land unsere Stimmen sowie der Swisscom einen halben Lehrlingslohn. 

Entertainment vs. Qualität

Seit Guildo Horn schlägt mein Herz für die Gaga-Nummern beim ESC. «Aber das hat mit Musik doch nichts zu tun», höre ich die Musik-Aficionados jammern. Stimmt. Aber genauso gut könnte man ins Feld führen, dass McDonald’s nichts mit gesunder Ernährung zu tun hat. Satt macht’s trotzdem und zum Scheissen reicht’s. Oder ums auf den ESC umzumünzen: Es ist ein Entertainment-Wettbewerb, die Musik ist zweitrangig. Im Zeitalter von TikTok und Insta will man viral gehen – und das schafft man nicht mit einem 08/15-Lied. Es braucht eine finnlandschwedische Comedytruppe, die über einen Saunabesuch singt oder einen estnischen Rapper, der mit «Espresso Macchiato» seiner Italien-Liebe die Krone aufsetzt.  

«Aber Nemo hat letztes Jahr bewiesen, dass ein guter Song wichtiger ist als eine Gaga-Performance!» Ganz ehrlich, hätte Nemo gewonnen, wenn der durchgeknallte Techno-Holländer nicht disqualifiziert worden wäre? Werden wir nie erfahren und deswegen bleibt’s für mich dabei: Der ESC ist das Trashfest des Jahres. Darauf eine Nussecke mit Himbeereis.