Die LGBTQ-Community in der Schweiz hat vieles erreicht und die meisten von uns können sicher leben. In Georgien hingegen sieht es ganz anders aus.
In dem Land am Schwarzen Meer, das unter anderem an Russland und die Türkei grenzt, ist an eine Pride-Demo nicht zu denken. Queers sind dort ständig Diskriminierungen, Demütigungen und Gewalt ausgesetzt. DISPLAY sprach mit Ani Tavadze von Tbilisi Pride, einer wichtigen LGBTQ-Einrichtung des Landes.
Interview Mathias Steger
Ani Tavadze zur Person
Ani Tavadze ist 27 Jahre und engagiert sich bei Tbilisi Pride, aber auch bei anderen NGOs für Demokratie und Toleranz sowie gegen die Benachteiligung von Frauen und Queers und gegen Gewalt. Sie lebt und arbeitet in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Während ihrer Ausbildung in Amsterdam erlebte sie, wie frei queeres Leben sein könnte.
Weitere Informationen: tbilisipride.ge

Ani Tavadze
DISPLAY: Ani, was genau ist Tbilisi Pride?
Ani Tavadze: Tbilisi Pride wurde 2019 gegründet und ist heute eine der zentralen Organisationen für LGBTQ-Rechte in Georgien – einem Land, in dem queere Menschen mit enormen Herausforderungen konfrontiert sind. Unser Ziel ist es, Sichtbarkeit zu schaffen, die Community zu stärken und uns politisch einzubringen. Wir zählen mehr als 100 Mitglieder. Unsere Arbeit basiert fast ausschliesslich auf Spenden und internationaler Unterstützung.
Wie ist die Lage in Georgien aktuell – insbesondere für die Community?
Als Tbilisi Pride 2019 gegründet wurde, war die politische Situation in Georgien noch etwas besser, und es gab zumindest noch einen begrenzten Spielraum für die Community. Seither hat sich die Situation leider kontinuierlich verschlechtert. Es kommt immer häufiger zu Einschränkungen, Angriffen und gezielten Einschüchterungsversuchen. Die Regierungspartei «Georgian Dream» hat die Homophobie im Land leider weiter verstärkt. Georgien ist zudem ein sehr armes Land, wovon Queers überproportional betroffen sind. Sie leiden oft unter extremer Armut, haben kaum Zugang zu medizinischer Versorgung, wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt und kämpfen mit grossen Hürden bei der Wohnungssuche. Viele verlassen das Land – aus Angst um ihre Sicherheit und in der Hoffnung auf ein besseres Leben.
«Georgien ist ein sehr armes Land, wovon Queers überproportional betroffen sind. Viele leiden unter extremer Armut, haben kaum Zugang zu medizinischer Versorgung, wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt und kämpfen mit grossen Hürden bei der Wohnungssuche»
Was ist in den letzten Jahren passiert?
2021 wollten wir erstmals eine Pride-Demonstration in der Hauptstadt Tiflis organisieren. Die rechtsextreme Gruppe «Alt Info» mobilisierte an diesem Tag mit unfairen Methoden und gezielter Hetze Tausende Gegendemonstrierende, die mit Gewalt gegen uns vorgingen. Sie griffen Medienvertretende, Aktivist:innen und unsere Büros sowie Räumlichkeiten anderer Einrichtungen an. Ein Kameramann wurde so schwer verletzt, dass er wenige Tage später an seinen Verletzungen verstarb. Niemand wurde dafür zur Rechenschaft gezogen – im Gegenteil: Die Regierung unternahm alles, um den Vorfall zu vertuschen. Daraufhin mussten wir die Parade natürlich absagen. Lediglich das Pride Festival mit Musik, Spielen, Workshops oder Diskussionen konnten wir durchführen.

Proteste in Tbilisi gegen die Unterdrückung im Juli 2021.
Wie ging es danach weiter?
2022 konnte zumindest ein Pride-Festival stattfinden – allerdings nur unter massivem Polizeischutz. 2023 war ein besonders schwieriges Jahr. Die Regierung positionierte sich deutlich prorussisch, griff westliche Länder verbal an und verbreitete Verschwörungstheorien. Sie versuchte zum ersten Mal, das sogenannte «Foreign Agents Law» einzuführen, das NGOs und Medien massiv einschränken sollte.
Dennoch – oder gerade deshalb – planten wir erneut ein Festival im Jahr 2023. Anfangs schien es, als würde uns die Polizei schützen, doch am Tag der Veranstaltung liess sie gewaltsame Gegendemonstrant:innen bis auf das Festivalgelände vordringen. Wir mussten fluchtartig evakuiert werden. Es wirkte so, als sei alles von der Polizei und der Regierung bewusst inszeniert worden, um uns zu demütigen. Nur wenige Minuten später konnten die Angreifer:innen ungehindert das Festivalgelände betreten. Die Polizei schaute tatenlos zu, wie sie die Räumlichkeiten verwüsteten, Regenbogenflaggen
verbrannten und Gegenstände sowie Unterlagen stahlen. Seitdem sieht es für die Community düster aus.
Was sieht das «Foreign Agents Law» genau vor?
Das «Gesetz zur Transparenz ausländischer Einflussnahme» – auch als «Foreign Agents Law» bekannt – wurde 2024 vom georgischen Parlament verabschiedet. Es orientiert sich stark an einem vergleichbaren russischen Gesetz, weshalb wir es auch als «Russian Law» bezeichnen. Es verpflichtet NGOs und Medien, die mehr als 20 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, sich als «Agenten ausländischen Einflusses» registrieren zu lassen. Das führt zu massiver staatlicher Kontrolle und gezielter Einschüchterung. 2025 wurde zusätzlich ein weiteres Gesetz verabschiedet, das ausländische Spenden so stark reguliert, dass sie kaum noch möglich sind. Aktuell kann unsere Organisation daher leider keine Unterstützung aus dem Ausland annehmen. Gegen diese Gesetze gibt es im Land bereits seit Monaten Demonstrationen.
Davon ist sicher auch die LGBTQ-Community stark betroffen?
Ja. Im Dezember 2024 trat ausserdem ein Anti-LGBT-Gesetz in Kraft. Es verbietet jede Form von queerem Ausdruck – sei es in Medien, in der Bildung oder im öffentlichen Raum. Sichtbarkeit wird kriminalisiert. Zusätzlich wurden Dutzende weitere diskriminierende und antidemokratische Gesetze verabschiedet. Wir leben in permanenter Bedrohung und mussten viele unserer Aktivitäten einstellen. Hunderte von Journalist:innen und friedliche Demonstrant:innen sitzen in Gefängnissen. Gleichzeitig erleben wir, wie sich Georgien politisch immer weiter von Europa entfernt und sich Russland annähert. Wir sehen gerade eine politische und demokratische Krise in Georgien, wie es sie in dieser Form noch nie gegeben hat.
«Der EU-Beitrittsprozess ist aktuell eingefroren. Stattdessen sehen wir eine zunehmende Zusammenarbeit und Annäherung an Russland»

Feinde der Community bekämpfen die Pride Week in Tbilisi.
Der Einfluss Russlands ist also sehr gross…
So ist es. Der EU-Beitrittsprozess ist aktuell eingefroren. Stattdessen sehen wir eine zunehmende Zusammenarbeit und Annäherung an Russland. Russland besetzt seit dem Krieg 2008 rund 20 Prozent unseres Territoriums. Nur wenige Kilometer von Tiflis entfernt stehen russische Panzer. Russland nutzt Länder wie Georgien gezielt, um seinen Einfluss in Europa auszudehnen. Unsere Regierung übernimmt zunehmend eine autoritäre und homophobe Politik nach russischem Vorbild – mit massiver Repression gegen Zivilgesellschaft, Medien und queere Menschen.
Was kann Tbilisi Pride aktuell überhaupt noch tun?
In der aktuellen politischen Lage ist es absolut unmöglich, Pride-Events zu organisieren. Wir würden unser Leben riskieren, da wir keinerlei Unterstützung von der Regierung bekommen – ganz im Gegenteil. Man hat uns jegliche Sichtbarkeit genommen. Die Botschaft war klar: Jeder Versuch, sichtbar zu sein, wird bestraft. Trotzdem suchen wir nach Wegen, um alternative Formen der Sichtbarkeit zu schaffen. Wir treffen uns weiterhin und veranstalten Community-Meetings. Wir haben vor kurzem einen Buchclub ins Leben gerufen, der sich mit queerer Literatur beschäftigt, die aufgrund des neuen Anti-LGBT-Gesetzes in unserem Land verboten ist.
Können queere Tourist:innen das Land deiner Meinung nach besuchen?
Solange man sich unauffällig und zurückhaltend verhält, ist Georgien nicht unbedingt gefährlich. Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit sind hier generell verpönt – auch bei Heterosexuellen. Es gibt noch queere Orte wie Bars oder Clubs, aber viele sind leer oder werden geschlossen, weil so viele Menschen das Land verlassen haben. Leider ändert sich auch der Vibe, denn die Leute sind vorsichtiger und ängstlicher. Es gibt sogar ein kleines queeres Quartier, in dem sich unser Büro sowie einige Clubs und Bars für die Community befinden. Früher war dort immer viel los – mit Drag Performances, Musik und guter Energie. Heute ist es leider sehr ruhig geworden.
Was kann Europa tun, um Georgien zu unterstützen?
Es ist wichtig, hinzuschauen und sich weiterhin für Demokratie und Toleranz auf der ganzen Welt einzusetzen. Es braucht mehr Solidarität im Kampf gegen rechte, autoritäre Politik – in Georgien und weltweit. Wer sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzt, muss auch den Blick auf Länder wie Georgien richten und aktiv dazu beitragen, diese Werte zu verteidigen.

Ani Tavadze an einer Demo für die Befreiung einer anderen Aktivistin.