Johannes Sieber* hat keine guten Nachrichten für Schwule, die ein Engagement für trans Menschen bestenfalls als Akt der Solidarität verstehen. Transfeindlichkeit habe mit Hass gegen Schwule mehr gemeinsam als uns lieb ist. Er appelliert ans Umdenken.
Die politische Grosswetterlage für queere Menschen hat sich spürbar verschlechtert. Seit Beginn von Trump 2.0 hat die US-Regierung eine ganze Reihe an Massnahmen zur Schwächung unserer Freiheit ergriffen: die Einschränkung geschlechtsangleichender Behandlungen, die Rücknahme des Diskriminierungsschutzes, den Ausschluss von trans Personen beim Militärdienst, die binäre Geschlechtsdefinition in amtlichen Dokumenten und die Kürzung von Mitteln für trans-inklusive Einrichtungen. Doch auch diesseits des Atlantiks sieht es düster aus: In Ungarn und Polen wird mit anti-trans Rhetorik gegen die sogenannte «Gender-Ideologie» Stimmung gemacht. Im uns näheren Europa und auch in der Schweiz formieren sich konservative Kräfte, welche die rechtliche Anerkennung und die medizinische Versorgung für trans Menschen einschränken wollen. Der Vorstoss dazu wurde Ende September im Nationalrat eingereicht. Es zeigt sich eine politische Strategie, die wahrscheinlich den Rückbau aller unserer Errungenschaften zum Ziel hat.
Viele Schwule fragen sich, was der aktuelle Aufruhr um trans Menschen mit ihnen zu tun hat. Warum sollen gerade sie, in deren Räume identitätspolitische Deutungsansprüche Einzug hielten, sich nun für die Anliegen von trans Menschen einsetzen?
«Wenn in Stellenausschreibungen explizit nach FLINTA-Personen gesucht wird, fragen sich einige: Gehören wir Schwulen noch dazu?»
Manch einer hat sich längst abgewendet, fühlt sich nicht mehr dazugehörig. Wenn Gruppierungen unter dem Begriff FLINTA1 zusammenfinden. Wenn an queeren Partys Räume exklusiv für FLINTAs angeboten werden. Wenn in Stellenausschreibungen explizit nach FLINTA-Personen gesucht wird. Da fragen sich einige mit Recht: Gehören wir Schwulen noch dazu?
1 ) FLINTA steht für Frauen, Lesben, Inter, Nonbinär, Trans, Agender
Für noch mehr aber scheint die Transfeindlichkeit im Alltag schlicht keine Rolle zu spielen. Andere fühlen sich von den Debatten über Geschlechtsidentität nicht betroffen oder ganz einfach überfordert. Manch einer hegt aufgrund der wachsenden transfeindlichen Stimmung in Medien und Politik gar einen Verdacht: Die Sichtbarkeit von trans Menschen und die Vehemenz ihrer Forderungen könnten übertrieben sein, die Kritik im Ansatz sogar berechtigt. Das ist ein Fehler!
«Berechtigt ist die Sorge, dass die hart erkämpfte gesellschaftliche Anerkennung von Schwulen durch den politischen Gegenwind wieder in Frage gestellt wird.»
Sehr wohl berechtigt ist die Sorge, dass die hart erkämpfte gesellschaftliche Anerkennung von Schwulen durch den aufkommenden politischen Gegenwind wieder in Frage gestellt wird. Etwa die vermeintlich gewonnene Selbstverständlichkeit im öffentlichen Leben oder das Recht auf Ehe. Doch sind die Angriffe auf trans Menschen nicht der Grund für diese Sorge, sondern die ersten Anzeichen dafür, dass die Sorge berechtigt ist. Heute sind es die trans Menschen, morgen geht es uns Schwulen an den Kragen.
Gemeinsame Wurzeln der Diskriminierung
Dabei gilt es zu verstehen, worin die Diskriminierung schwuler cis Männer begründet ist. Unter anderem ist es die Behauptung, dass Schwule in ihrer Männlichkeit defizitär seien: nicht stark genug, nicht durchsetzungsfähig, zu feminin – kurz: keine richtigen Männer. Ihr kennt die Schimpfwörter. Es ist kein Zufall, dass «die Schwuchtel» und «die schwule Sau» weiblich sind. Da können wir noch so oft ins Gym rennen und uns mit Steroiden vollpumpen. Das Absprechen von Männlichkeit beruht auf gesellschaftlichen Mustern – und die sind stärker als die gewonnene Muskelmasse. Männlichkeit misst sich weniger in der physischen Erscheinung oder der selbstbestimmten Identität als in der Wertung der Betrachter:innen.
«Die Angriffe auf trans Personen gefährden spätestens hinter der nächsten Ecke auch die
Anerkennung von Schwulen und Lesben.»
So gilt in patriarchalen Strukturen als männlich, wer alles und jede:n dominiert. In sexuellen Begegnungen nimmt der Mann die aktive, penetrierende Rolle ein. Das ist in der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft unbestritten. Doch Schwule erfüllen auch diese Männlichkeitsnorm nur selten. Wenn nicht aus eigener Erfahrung, kennen wir das von Grindr & Co: Da tummeln sich neben Tops und Versatiles viele «Bottom only». Ja, genau, es ist die Sexualität, in der wir Schwulen uns unterscheiden. Und dies hat fatale Folgen auf die Wertung unserer geschlechtlichen Identität. Unser freiheitlicher Umgang mit diesen Rollen verunsichert die Mehrheitsgesellschaft in ihrer grundlegenden Ordnung.
Für dieselbe Verunsicherung sorgen trans und nonbinäre Menschen besonders dann, wenn sie im Auge der Betrachter:innen nicht eindeutig zuweisbar sind. Grund dafür können körperliche Merkmale sein, aber auch einfach die Gewissheit, dass Körper und Identität des Gegenübers (noch) nicht kongruent sind. Wer sein Verhalten zum Gegenüber von dessen Geschlecht abhängig macht, ist dann schnell einmal überfordert.
Fordernd ist auch der freiheitliche Umgang mit körperlichen Merkmalen. Diese für die eigene geschlecht-liche Identität nicht als bestimmend zu verstehen, ist für viele Nichtbetroffene schlicht jenseits des Denk-
baren.
«Das Absprechen von Männlichkeit trifft Schwule und trans Männer genauso. Dieselbe Parallele kennen Lesben und trans Frauen, deren Weiblichkeit ebenso in Frage gestellt wird.»
Das Absprechen von Männlichkeit trifft Schwule und trans Männer genauso. Dieselbe Parallele kennen Lesben und trans Frauen, deren Weiblichkeit ebenso in Frage gestellt wird. Unsere Existenz rüttelt an der vermeintlich natürlichen, vermeintlich gottgegebenen, ganz sicher aber der traditionellen Ordnung von Geschlecht. Wer diese Gemeinsamkeit ignoriert, unterschätzt, dass die Angriffe auf trans Personen spätestens hinter der nächsten Ecke auch die Anerkennung von Schwulen und Lesben gefährden.
Strategische Stärke durch Zusammenhalt
Darum ist der Zusammenhalt im Interesse der gemeinsamen politischen Schlagkraft. In einer Zeit, in der rechts-populistische Bewegungen weltweit an Einfluss gewinnen, kann sich die queere Community keine Spaltung leisten. Eine Betrachtung, die Schwule von trans Menschen abgrenzt, schwächt beide Seiten. Schwule tun darum gut daran, sich etwas vertiefter mit trans Themen zu beschäftigen, und auch trans Menschen sollten die Anliegen der Schwulen und Lesben respektieren. Eine trans-inklusive Haltung ist keine moralische Geste und nicht bloss eine Frage der Solidarität. Das reicht nicht! Sie ist eine strategische Notwendigkeit für die gemeinsamen Interessen. Für den Erhalt der eigenen, hart erkämpften Errungenschaften in einer wieder zunehmend verunsicherten Welt.

* Johannes Sieber ist seit 20 Jahren aktiv für das queere Basel, ist in zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen aktiv und im Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt politisch engagiert.