meint Rafael Sanchez, Co-Indendant des Zürcher Schauspielhauses. DISPLAY unterhielt sich mit ihm und Schauspieler Florian Voigt.
Frischer Wind im Zürcher Schauspielhaus. Der neue Co-Intendant, Rafael Sanchez, kritisiert, dass der Theaterbetrieb trotz aller Offenheit noch immer stark von traditionellen Strukturen geprägt ist. Auf der Pfauen-Bühne will der neue Chef mehr Raum für Menschen schaffen, die nicht der Norm entsprechen. DISPLAY hat sich auch mit dem Schauspieler Florian Voigt unterhalten. Als neues Mitglied des Schauspielhaus-Ensembles steht der 28-Jährige aktuell im Stück «Blösch» auf der Bühne.
Text Mark Baer, Bilder Viviane Saner und Caitlin Devinchi

Mark Baer im Gespräch mit Florian Voigt und Rafael Sanchez
Wer das Gefühl hat, dass nun ein «Baaasler» das Sagen im zwinglianischen Pfauen hat, sieht sich irgendwie getäuscht. Zwar ist Rafael Sanchez im Frauenspital in Basel geboren und auch in der Stadt am Rhein gross geworden, dennoch klingt der neue Co-Intendant des Zürcher Schauspielhaus, wenn er spricht, wie ein ausgewachsener Bündner. Was ist passiert? Selber kann es sich der 50-Jährige auch nicht erklären. Seine Mutter spricht Berndeutsch. Sein Vater war Spanier und ausserhalb der Wohnung wurde er konstant mit Baseldytsch beschallt. Und irgendwie hat der Mix aus all diesen Kulturen bei Rafael dann einen Bündner Dialekt hervorgezaubert.
Seine Grosseltern väterlicherseits kamen in den 1960er-Jahren aus Nordspanien in die Schweiz. So gesehen sei er kein «Secondo», sondern ein richtiger «Terzo», wie er mit einem Lachen im Gesicht erklärt.
Und damit sind wir eigentlich bereits beim Stück «Blösch», das Mitte September auf der Schauspielhaus-Bühne grosse Premiere feiern konnte (Box links). Kein Wunder, dass Rafael Sanchez bei dieser Inszenierung gleich selbst Regie führt; denn «eigentlich ist es die Geschichte meiner Grosseltern.» Und obwohl das Buch zum Theaterstück aus den 1980er-Jahren stammt, könnten die Themen aktueller nicht sein. Bei «Blösch» geht es um Migration, Ausbeutung und die krassen Auswüchse der Fleischindustrie. «Die Ausländerfeindlichkeit ist heute noch stärker ausgeprägt als damals», gibt der neue Co-Leiter zu Protokoll. Auch die Verdrängung sei immer noch immens. Der Migrant aus Spanien wird im Stück auf dem Bauernhof von einer Melkmaschine ersetzt.
Spricht «Blösch» auch queere Lebensrealitäten an?
Obwohl «Blösch» kein dezidiertes LGBTIQ-Stück ist, sieht Rafael darin durchaus Anknüpfungspunkte: «Das Stück erzählt vom Fremdsein, von Körperlichkeit, Macht, Nähe und Distanz – alltäglichen menschlichen Erfahrungen, die natürlich auch sehr viele queere Personen kennen.» In diesem Sinn lasse sich das Stück auch aus einer queeren Perspektive lesen. «Es geht um Menschen am Rand.» Dabei spiele es keine Rolle, ob queer oder Ausländer:in.
Der Regisseur wünscht sich, dass sich die Zuschauerschaft berührt fühlt. «Ich hoffe, dass die Menschen, die ‘Blösch’ auf der Bühne miterleben, nicht einfach ‘das Stück mit dem Spanier’ sehen, sondern spüren können, dass hier eine Geschichte erzählt wird, die uns alle etwas angeht.»
«Blösch»: Eine Leitkuh und ein Spanier im Schlachthaus
Das Theaterstück «Blösch» basiert auf dem 1983 veröffentlichten Roman von Beat Sterchi. Für das Schauspielhaus wurde es von Mike Müller bearbeitet. Für die Regie zeichnet Rafael Sanchez verantwortlich. Die Geschichte erzählt vom spanischen Landarbeiter Ambrosio, der in der Schweiz auf einem Bauernhof arbeitet und dort eine besondere Beziehung zu einer Leitkuh namens «Blösch» aufbaut. Thematisch beleuchtet das Stück die Ausbeutung von Mensch, Tier und Umwelt und wirft weitere gesellschaftlich relevante Fragen auf.
«Ich bin Schauspieler und schwul»
Bei «Blösch» steht der junge Schauspieler Florian Voigt mit auf der Bühne. Ihm ist es wichtig, dass die Zuschauer:innen im Theater nicht nur konsumieren, sondern mit dem Bühnengeschehen emotional mitgehen können: «Mit einem offenen Blick auf das, was wir als Gesellschaft alles verdrängen.»
Zugang zur Spannung zwischen Verletzlichkeit und Übergriffigkeit im Theaterstück hat Florian über seine eigenen Erfahrungen als schwuler Mann gefunden. «Ich weiss, wie es sich anfühlt, nicht zu passen.» Dieses Bewusstsein bringe er in die Rolle mit ein.
Aber auch wenn der Stäfner seine eigenen Perspektiven in seine Rollen packt, will er nicht darauf reduziert werden. «Ich bin Schauspieler und schwul – das beeinflusst mich, aber das ist natürlich nicht alles, was mich umtreibt.» Florian, der seit drei Jahren einen Freund hat, fühlt sich als Teil der Community. «Doch ich bin nicht für meine Queerness engagiert worden.»
Florian hat drei jüngere Schwestern. Dass er gay ist, war ihm bereits mit 14 bewusst. Mit 17 Jahren outete er sich vor seinen Eltern. «Es war ein Prozess mit Ängsten, aber auch mit grosser Unterstützung.»

Neues Schauspielhaus-Ensemble-Mitglied: Florian Voigt
1997 in Zürich geboren, aufgewachsen in Stäfa, sammelte Florian Voigt ab 2008 als Statist und dann im Kinderchor des Opernhauses Zürich seine ersten Bühnenerfahrungen. Nach Abschluss seines Studiums in «Physical Theatre» an der Accademia Teatro Dimitri, absolvierte er von 2019 bis 2023 sein Schauspielstudium an der Otto Falckenberg Schule in München. Während des Studiums gastierte er an den Münchner Kammerspielen und am Münchner Volkstheater. 2023 bis 2025 folgte ein Engagement am Theater Trier. Seit diesem Sommer arbeitet Florian Voigt im Ensemble am Schauspielhaus Zürich.
Wie queer ist das Theater heute? «Noch nicht queer genug», beantwortet Rafael Sanchez meine Frage. Damit kritisiert der heterosexuelle Regisseur, dass der Theaterbetrieb heute trotz aller Offenheit noch immer stark von traditionellen Strukturen geprägt ist.
«Queer» versteht er dabei nicht nur als sexuelle Identität, sondern breiter: «als ein Prinzip der Vielfalt, des Nicht-Normativen, des Aufbrechens von festgelegten Kategorien.» Sein Ziel mit der neuen Intendanz: «Ich will mehr Raum für Menschen schaffen, die nicht einer angeblichen Norm entsprechen.»
Das Schauspielhaus Zürich soll unter seiner und Pınar Karabuluts Leitung stärker sichtbar machen, wie vielfältig die Schweizer Gesellschaft ist – also nicht nur heterosexuell, weiss, männlich und bildungsbürgerlich, sondern mit Geschichten und Körpern, die sonst oft unsichtbar bleiben.
Im Gespräch mit DISPLAY bezeichnet sich der neue Chef von fast 300 Pfauen-Mitarbeitenden als sehr geduldig und offen. Der Theater-Aficionado sieht sich selbst als kommunikative Person, die auch mit sogenannt «schwierigen» Persönlichkeiten gut umgehen kann. Das Vorurteil, im Theater würden ganz besonders viele schwierige Charaktere arbeiten, sei aber nur teilweise richtig. «Ja, es gibt in jedem Theater Spannungen, aber nicht mehr als in anderen Betrieben», sagt er.
Schauspieler:innen seien stark exponiert und müssten sich ständig auf neue Regien und neue Kolleg:innen einstellen. Als Künstler:in auf der Bühne sei man ständig gefordert. «Du musst dich alle paar Monate auf ein neues Team einlassen und bekommst alles ungefiltert ab.»
Wer nicht ständig alles gebe, verliere schnell an Ansehen und bekomme dann keine guten Rollen mehr. «Wenn man mal ein bisschen nachlässt, ist man in der Hackordnung gleich wieder unten», erklärt er.
Im Zürcher Schauspielhaus will der neue Co-Intendant zusammen mit Pınar Karabulut genau diese Strukturen verändern und das Ensemble stärker schützen. «Bei uns sollen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler voll auf die Kunst konzentrieren können.»
Ziel sei es, Rollen nicht nur an diejenigen zu vergeben, die am stärksten ihre Ellbogen ausfahren. Auch Phasen, in denen jemand mal nicht 100 Prozent liefern könne, sollen im Pfauen möglich sein. Schauspieler:innen im Ensemble sollten auch mal sagen können: «Ich werde geschützt, ich darf mich entwickeln.»
Selber spielt Rafael Sanchez heute keine Rollen auf der Bühne, weil die Schauspielschulen ihn in jungen Jahren nicht angenommen haben. Damals hiess es immer wieder: «Wir haben schon einen mit schwarzem Haar.» Deshalb fing er an zu inszenieren und schnell merkte er, «das ist noch besser, als eine Rolle zu spielen!»

Neuer Schauspielhaus-Co-Intendant: Rafael Sanchez
Geboren 1975 in Basel, begann Rafael Sanchez seine Theaterlaufbahn am Jungen Theater Basel. Von 2003 bis 2006 war er Hausregisseur an jenem Theater am Rhein. Von 2008 bis 2013 arbeitete der heute 50-Jährige als Co-Intendant des Theaters am Neumarkt Zürich. International tätig war Sanchez an renommierten Häusern wie der Schaubühne Berlin, dem Düsseldorfer Schauspielhaus und dem Schauspiel Köln. Weiter stand der verheiratete Vater zweier Töchter auch als Regisseur im Staats-schauspiel Dresden und am Teatro Español Madrid im Einsatz.
Seit diesem Sommer leitet Rafael Sanchez mit Pınar Karabulut das Schauspielhaus Zürich.
Finally Schauspielhaus!
Im Interview erzählt Rafael, dass er nach seiner Zeit am Zürcher Theater Neumarkt zunächst eigentlich nur noch als Regisseur arbeiten wollte. Doch dann sei zusammen mit Pınar die Lust auf das Schauspielhaus Zürich gekommen; wegen «der Stadt, der Möglichkeiten und der unglaublichen Ausstrahlung dieses grossen Hauses», wie er ausführt.
Sie hätten sich bewusst als Doppelpack bewor-ben. Dabei mussten Rafael und Pınar ein hartes Auswahlverfahren durchlaufen; mit Assessments, Budgetübungen und mehreren Kreuzverhören durch die Findungskommission und den Verwaltungsrat. «Wir haben uns das richtig hart erarbeitet», sagt er «und sind stolz, dass wir es geschafft haben!»
Zur Zusammenarbeit mit Pınar sagt er, sie seien zwar verschieden in der Handschrift, aber beide würden gerne grosse Geschichten erzählen, seien nah an den Schauspieler:innen und am Mensch. «Ich hätte dieses Projekt mit niemand anderem anpacken wollen», so der 50-Jährige.
Kein Wunder: Pınar und Rafael kennen sich schon seit etwa 15 Jahren. «Für uns war immer klar: wenn wir etwas gemeinsam machen, dann nur am Schauspielhaus Zürich.»
Zürich, eine Theaterstadt mit hohem Anspruch
Wie ist die Limmatstadt im Vergleich zu Berlin oder Köln, möchte ich am Schluss noch vom neuen Co-Leiter wissen. «Zürich ist eine Theaterstadt – mit hohem Anspruch.» Das Publikum sei streng. Berlin sei viel grösser und spezialisierter. In Zürich müsse man ein Programm für jeden Geschmack machen.

Und was kommt sonst noch??
Nach Blösch folgt in der neuen Spielzeit «Like Lovers Do»: Eine choreografische Auseinandersetzung mit Lust, Nähe und der Macht von Begehren, die toxische Muster von Männlichkeit sichtbar macht. «Are You Ready to Die?» ist ein sprachloses, performatives Stück, das mit Körpern, Bildern und Rhythmen über Sterblichkeit und Lebenslust erzählt. Dann wird auf der Pfauenbühne auch noch «Graf Öderland» gezeigt. Das Stück erzählt von der Lust, aus der Normalität auszubrechen – und zeigt, wie dieser Wunsch schnell in Zerstörung und Gewalt kippen kann. Das Schauspielhaus arbeitet immer wieder mit der Community zusammen; zum Beispiel mit Drag Artists bei der «Kleinen Meerjungfrau». Produktionen wie «Stützliwösch Supertrans» und «(What you’ll find) on the way to becoming» sind wichtige Andockpunkte.
Auf diese LGBTIQ-Stücke wird DISPLAY noch ausführlicher eingehen. Im Pfauen-Ensemble selbst ist queere Vielfalt ohnehin selbstverständlich, wie uns Florian Voigt verraten hat.