Offen lieben, ohne Drama – so geht’s (vielleicht)

Eine offene Beziehung ist bei vielen Paaren üblich. Wie aber soll diese geregelt sein, dass es wirklich klappt? Ein Experte gibt Auskunft. 

«Der erste Schritt ist, überhaupt zu akzeptieren, dass Eifersucht vorkommen wird. Ich glaube nicht, dass es Menschen gibt, die komplett frei davon sind.»

Interview Christian Gersbacher

DISPLAY: Tobias, wie häufig begegnen dir in deiner Praxis Paare, die eine offene Beziehung führen oder diesen Schritt in Erwägung ziehen?
Tobias: Tatsächlich häufiger, als ich ursprünglich erwartet hätte. Ich würde sagen, etwa ein Drittel der Paare, die zu mir kommen, leben bereits in einer offenen Beziehung oder sind ernsthaft daran interessiert. Und bei weiteren zwei Dritteln taucht das Thema zumindest einmal auf – wenn auch nicht immer mit der Absicht, es umzusetzen. Natürlich kann das auch mit meinem Fokus zusammenhängen: Ich arbeite queersensibel, und in der queeren Community sind alternative Beziehungsmodelle oft etwas präsenter.

Welche Gründe nennen Paare dir für den Wunsch nach einer offenen Beziehung?
Oft werden Gründe genannt wie: «Im Bett läuft es nicht mehr so gut, vielleicht bringt eine Öffnung frischen Wind.» Oder: «Wir wollen einfach neugierig bleiben, uns ausprobieren.» Interessant ist aber, dass diese Gründe nicht immer die eigentlichen sind. Ich erinnere mich an ein Paar, das die Beziehung öffnen wollte, weil der Sex nicht mehr funktionierte. Die Hoffnung war, neue Impulse zu bekommen, die man dann in die Beziehung zurückträgt.


Tobias Herrmann-Schwarz 

ist Psychologe, Paartherapeut und Sexualberater – und er weiss, worauf es wirklich ankommt, wenn Paare ihre Beziehung öffnen wollen. Er arbeitet schwerpunktmässig mit Menschen aus der LGBTQ*-Community zusammen und dabei begegnet ihm alles: Sehnsucht, Eifersucht, Missverständnisse – aber auch viel Mut, Neugier und echte Nähe. Im Interview mit DISPLAY verrät er, was offene Beziehungen brauchen, was sie schnell killt – und aus seiner eigenen Erfahrung mit dem Thema nach mehr als acht Jahren Ehe.


Hat das funktioniert?
Nein, im Gegenteil. Im Laufe der Gespräche wurde klar: Eine Person hatte grundsätzlich keine Lust mehr auf Sex mit der anderen – das war das eigentliche Thema. Die Idee einer offenen Beziehung war eher ein vorgeschobener Versuch, das Problem zu umgehen. Als sie sich dann wirklich mit ihrer Beziehung und ihren individuellen Bedürfnissen auseinandersetzten, hat sich einiges gelöst. Die beiden haben später sogar geheiratet – monogam.

Das klingt, als würde der Wunsch nach einer offenen Beziehung oft tieferliegende Beziehungsthemen überdecken?
Genau. Das ist gar nicht ungewöhnlich. Eine offene Beziehung kann neue Energie bringen – aber nur, wenn beide das wirklich wollen und nicht aus einem Mangel heraus handeln. Es braucht eine gewisse emotionale Reife, um zu erkennen: Warum wünschen wir uns das eigentlich? Geht es um sexuelle Freiheit? Oder um etwas, das in der Beziehung fehlt, aber vielleicht ganz anders gelöst werden könnte?

Du hast auch Neugier und Freiheitswünsche als Motivationen erwähnt. Welche Rolle spielen die?
Eine grosse. Manche Menschen möchten einfach andere Erfahrungen machen, sich sexuell ausprobieren oder frei von gesellschaftlichen Normen leben. Gerade in queeren Kontexten ist diese Lust auf Selbstbestimmung oft sehr bewusst. Doch auch dann gilt: Es funktioniert nur mit klaren Absprachen, gegenseitigem Vertrauen und emotionaler Transparenz. Offene Beziehungen brauchen nicht weniger Arbeit als monogame – eher im Gegenteil.

Was würdest du sagen: Welche Beziehungsdynamiken oder welcher Beziehungsstand eignen sich besonders gut für eine offene Beziehung?
Am besten eignet sich eine Beziehung, bei der die Basis klar ist. Also wenn man sich gegenseitig vertraut, sich wertschätzt und beide genau wissen, worauf sie sich einlassen. Es sollte klar sein, was der Rahmen dieser offenen Beziehung bedeutet.
Ein bisschen Experimentierfreude gehört auch dazu, denn meistens legt man gemeinsame Regeln fest – und in der Realität ist es dann oft so, dass diese irgendwann gebrochen werden. Das passiert eigentlich immer. Entscheidend ist, wie man damit umgeht. Und dafür braucht es eben wieder diese starke Basis: offene, ehrliche Kommunikation, Vertrauen, Wissen über Safer Sex – und die Fähigkeit, mit Eifersucht umgehen zu können.

Das ist ein spannender Punkt. Wie kann man konstruktiv mit Eifersucht oder Unsicherheiten umgehen, die in einer offenen Beziehung entstehen können?
Der erste Schritt ist, überhaupt zu akzeptieren, dass Eifersucht vorkommen wird. Ich glaube nicht, dass es Menschen gibt, die komplett frei davon sind. Es wird immer mal ein Moment kommen, in dem sich eine Person weniger beachtet fühlt oder denkt: «Du hast jetzt nur noch Augen für jemand anderen.»
Vielleicht entsteht auch das Gefühl, dass der gemeinsame Körperkontakt abnimmt, weil dieser nun mit anderen geteilt wird.
In solchen Situationen ist es wichtig, dass alle ihre Bedürfnisse äussern können – und dann gemeinsam schauen, wie man diese mit dem Konstrukt der offenen Beziehung in Einklang bringt.

Welches sind die häufigsten Fehler, die Paare machen, wenn sie eine offene Beziehung beginnen?
Der häufigste Fehler ist, dass die Grundvoraussetzungen für eine offene Beziehung nicht erfüllt sind. Viele starten aus einem Problem heraus – zum Beispiel, weil etwas in der Beziehung fehlt oder schon eine Affäre im Raum steht. Das führt oft zu weiteren Schwierigkeiten.
Ein weiteres Problem ist mangelnde Kommunikation. Wenn jemand nicht ehrlich sein kann, lügt oder hinter dem Rücken Dinge tut, die gegen die gemeinsam vereinbarten Regeln verstossen, wird es kompliziert. Und wenn das dann später herauskommt, entsteht oft ein Vertrauensbruch.

«Wenn jemand nicht ehrlich sein kann, lügt oder hinter dem Rücken Dinge tut, die gegen die gemeinsam vereinbarten Regeln verstossen, wird es kompliziert.»

Also ist es wichtig, von Anfang an klare Absprachen, Regeln und Grenzen zu formulieren?
Ja, auf jeden Fall. In jeder Beziehung – auch in monogamen – gibt es unausgesprochene oder implizite Regeln. In offenen Beziehungen muss man sich diese Regeln erst gemeinsam erarbeiten, weil es dafür weniger gesellschaftlich vorgegebene Rahmen gibt. Es ist wichtig, dass alle offen sagen, was sie sich vorstellen, und sich darüber einig sind, wie die Beziehung gestaltet wird.

Erlebst du denn, dass Paare wirklich offen miteinander darüber sprechen, mit welchen Personen sie ausserhalb der Beziehung etwas haben? Oder ist es eher so, dass sie sagen: «Unsere Beziehung ist offen, aber wir wissen nicht genau, was da passiert und mit wem»? Was, denkst du, ist besser?
Ja, beides kommt vor. Deshalb würde ich auch gar nicht sagen, das eine ist grundsätzlich besser als das andere. Ich glaube, das hängt sehr davon ab, wie die einzelne Person tickt – und wie das Paar insgesamt funktioniert.
Es gibt Menschen, die sehr gut damit umgehen können, wenn sie nicht genau wissen, was der oder die andere ausserhalb der Beziehung macht. Und es gibt andere, bei denen das sofort Unsicherheit oder Misstrauen auslösen würde. Die brauchen mehr Transparenz, um sich sicher zu fühlen.

Gibt es Konstellationen, in denen eine offene Beziehung gar nicht funktioniert?
Auf jeden Fall. Für mich wird das deutlich, wenn ich merke, dass mindestens eine Person wirklich unter der Situation leidet. Und oft betrifft es sogar beide. Trotzdem haben viele das Gefühl: «Jetzt haben wir das angefangen, jetzt müssen wir es auch irgendwie durchziehen.» Aber wenn Eifersucht so stark wird, dass sie ständig zu Konflikten führt, dass der Alltag dominiert ist von Streit und Unsicherheit, dann ist das ein Alarmsignal. Dann stimmt entweder der Rahmen nicht – oder die Form der Beziehung passt grundsätzlich nicht zu den Bedürfnissen der Beteiligten.

Du selbst lebst in einer offenen Beziehung. Was sind deine Erfahrungen damit?
Genau, wir sind seit 2017 verheiratet und haben unsere Beziehung, glaube ich, schon seit fast zehn Jahren geöffnet. Ich würde sagen, wir funktionieren ziemlich gut – vor allem, wenn es um Probleme und Konfliktlösungen geht.
Wir schaffen es in der Regel, zielgerichtet zu kommunizieren: Wo soll es hingehen? Was brauchen wir gerade? Und dabei verlieren wir auch nicht aus dem Blick, wie es der anderen Person geht. Das war am Anfang nicht immer einfach.

Der Impuls zur Öffnung kam eher von einer Seite, aber wir haben dann gemeinsam überlegt, wie eine Lösung aussehen könnte. In unserem Fall waren es konkrete Situationen wie ein Auslandssemester und zwei Jahre Fernbeziehung. Da war dann die Frage: Was ist jetzt sinnvoll? Was wäre möglich?
Ein ganz zentraler Punkt bei uns ist, dass diese Sicherheit da ist. Zu wissen: Mein Partner wird mich nicht einfach verlassen. Wenn etwas ist, dann reden wir erst einmal darüber.

Das heisst, ihr kommuniziert auch über emotionale Entwicklungen? Würdet ihr auch offen damit umgehen, wenn Gefühle für jemand anderen entstünden?
Ja, das ist auch schon vorgekommen. Und ich würde sagen, mittlerweile sind wir reif genug, solche Dinge zu unterscheiden.
Es macht für mich einen grossen Unterschied, ob man sagt: «Ich bin verliebt» oder «Ich liebe diese Person wirklich.»
Wenn jemand bei uns sagt: «Ich hab da gerade Gefühle für jemanden», dann ist das nichts, was sofort Angst auslöst. Im Gegenteil: Dann würde ich eher sagen, geniess es, leb das ruhig aus – aber sei dir bewusst, dass Schmetterlinge irgendwann verfliegen.
Unsere wichtigste Regel ist da ganz simpel: Wenn jemand fragt, muss man ehrlich antworten. Dieses gegenseitige Vertrauen, dass man einander offen sagen kann, was Sache ist – das ist die Grundlage für alles.

Zum Abschluss: Was würdest du Menschen mitgeben, die darüber nachdenken, ihre Beziehung zu öffnen? Gibt es etwas, das dir besonders wichtig ist?
Ja, ich würde sagen: Seid ehrlich zu euch selbst – und zueinander. Eine offene Beziehung kann sehr bereichernd sein, aber sie ist auch keine «einfache» Lösung für Beziehungsprobleme. Man braucht dafür eine stabile Basis, gute Kommunikation und die Bereitschaft, sich selbst immer wieder zu hinterfragen.
Es hilft, sich Zeit zu nehmen, gemeinsam über Wünsche, Ängste und Grenzen zu sprechen – und nicht zu erwarten, dass alles sofort reibungslos läuft.
Und vor allem: Es gibt kein richtig oder falsch. Es geht darum, gemeinsam herauszufinden, was für euch funktioniert.