Queere Bibel  «Die Queerbibel ist ketzerisch wundervoll»

Die neue Interpretation der Bibel sorgt für Kontroversen. DISPLAY hat nachgefragt.

Von Marcel Friedli-Schwarz

Sie inspiriert, sie empört, sie macht stutzig: die Bibel. Besonders provoziert sie in Kombination mit Queerness. Vor kurzem entstanden, ist die erste queere Bibel bereits besudelt und zerkratzt worden. Trotzdem wird weiter an ihr geschrieben: werden Geschichten nacherzählt, mit farbig-buntem, weltoffenem Blick – direkt ins Leben queerer Menschen.

Besudelt worden ist sie, die regenbogenfarbige Bibel in der Peterskapelle in Luzern. Zerkratzt. Blätter, auf denen biblische Geschichten anders, ergänzt erzählt werden, sind zerfleddert und zerrissen. Einige Seiten sind herausgerissen. «Die Queerbibel ist ketzerisch», ist daneben auf einen Zettel gekritzelt, «und ein Götzenglauben! Schämt euch. Möge Gott euch verzeihen.»

Zuhauf kommt es zuvor zu ähnlichen Äusserungen im Internet. «Was für eine geistlose, dumme, im Kern blasphemische und arrogante Idee!», heisst es in einem Kommentar. «Offenbar will man noch die letzten Getreuen aus den Kirchen vertreiben», wird weiter gepoltert, «nach der Kampagne gegen die Konzerne nun die Queer-Propaganda.» Von «absurdem neuem Schrott» und von «quer in der Landschaft stehendem Quatsch» ist ebenso die Rede.

Aufgrund solcher Reaktionen haben es Quasi-Queer-Pastor Meinrad Furrer und Mentari Baumann von der Allianz gleichwürdig katholisch (siehe «Gesichter hinter der Queerbibel» Seite 62) stets für möglich gehalten, dass die Bibel beschädigt wird. Doch vorerst wollten sie damit zuwarten, das malträtierte Buch des Anstosses zu flicken. Sie haben es so in der Kirche belassen. 

Darauf hat jemand den Kommentar der Tatperson durchgestrichen – und überschrieben: «Die Queerbibel ist wundervoll und ein Superglaube! Skandal. Schämt euch nicht! Möge Gott euch Homophoben verzeihen!» Und: Auf dem Zettel nebenan äussern sich die meisten positiv über die Queerbibel. 

Zusammen mit einer Bibelwissenschaftlerin haben Meinrad Furrer und Mentari Baumann einen Anlass organisiert, um über die Hintergründe zu informieren und darüber zu diskutieren. Dreizehn Personen waren dabei. «Wahrscheinlich», sagt Meinrad Furrer, «waren die massiven Kritiker:innen der queeren Bibel nicht anwesend. Es gab jedoch eine angeregte Diskussion. Das Band der Voten war breit.» 


Storytelling

In der Peterskapelle in Luzern ist die – inzwischen geflickte – Queerbibel zu bewundern. Auf einem Infoständer werden die Hintergründe erleuchtet: der Bezug zu queer-feministischer Theologie wird hergestellt und auf die Art der Entstehung biblischer Texte hingewiesen. Hinter queer-feministischer Theologie steht die Idee, Gläubige aus heterosexueller und patriarchaler Religiosität und Spiritualität zu befreien.

An der Pride in Luzern von Ende August ist die erste queere Bibel entstanden. Sie stiess bei vielen Menschen, die kaum einen Bezug zu Religion und Kirche haben, ebenso auf Interesse wie Veranstaltungen zur Thematik. Federführend sind Meinrad Furrer und Mentari Baumann

Meinrad Furrer steuert einen Brief an Apostel Paulus bei; die weiteren Texte schreiben andere, die sich mit der Thematik vertieft befassen. Manchmal erzählen sie eine Geschichte nach,
ergänzen sie, eröffnen den Dialog.

→ Inspiriert ist die Queerbibel vom Zoom-Format Brot & Liebe, bei dem Geschichten im Zentrum stehen – Storytelling gefragt ist. Fortlaufend weitere Texte mit neuen Lesarten, Nacherzählungen und literarisch inspirierte Ansätze werden über Social Media verbreitet und sind im Internet abrufbar: gleichwuerdig.ch

→ Brot & Liebe: brot-liebe.net 


Warum überhaupt die Aufregung? Eigentlich ist die queere Bibel ein Mini-Projekt für eine (neutral gemeint) Minderheit der Minderheit: ein Buch, mit den Farben des Regenbogens geschmückt. Mit momentan etwa zwei Dutzend Texten, die an diversen Stellen eingelegt sind – wobei das Original ersichtlich ist. 

Die Bibel ist durch Nacherzählungen entstanden, hat sich verändert je nach Zeit, durch unterschiedliche Übersetzungen. Propheten und Apostel erzählen dieselben Geschichten mit unterschiedlichem Schwerpunkt, mit anderen Details. Und queere Theologie ist kein Hirngespinst, sondern es gibt sie schon länger (vergleiche «Storytelling» rechts). 

Die Frage, wie wörtlich man die Bibel nehmen darf und soll, sorgt seit jeher für rote Köpfe. «Wir vereinnahmen die Bibel nicht», betont Meinrad Furrer. «Wir behaupten nicht, Jonathan und David oder Ruth und Nomi seien schwul und lesbisch – sondern weisen auf mögliche Zwischentöne hin, wie sie in menschlichen Beziehungen und Freundschaften oft Realität sind.»

Auch spricht Meinrad Furrer die Schöpfungsgeschichte an. «Sie wurde lange heteronormativ erzählt. Aber sie beschreibt ein ständiges Dazwischen: Es gibt zwischen den Polen, zwischen Land und Wasser, Tag und Nacht noch viele andere Aggregatzustände. Es ist immer ein Kontinuum: Viele Graubereiche zwischen Schwarz und Weiss gibt es. Das ist bei männlich und weiblich genauso.»

Zurück zum Vandalenakt: Die Polizei hat laut Meinrad Furrer von einer Anzeige abgeraten, da die Erfolgsaussichten minimal seien. Zumal sehr viele Menschen die Luzerner Peterskapelle
betreten und keine Kamera installiert ist. 

Sowieso: Meinrad Furrer und Mentari Baumann wollen die Geschichte nicht über die Justiz lösen – sondern im Dialog.    


«Eine neue Deutung hinzufügen»

Auf die Queerbibel gibt es – nebst ein paar wohlwollenden – viele irritierte und gehässige Kommentare im Netz (siehe Haupttext). Der queer-feministische Ansatz erhitzt die Gemüter. «Wirklich deutlich», sagt Exegese-Professor Matthias Ederer von der Universität Luzern, «lässt sich in den biblischen Texten kein Bewusstsein für das erkennen, was wir mit dem modernen Wort queer umschreiben.»

Sinn und Bedeutung eines Textes seien allerdings mehr, als was ein Autor vor langer Zeit habe sagen wollen, sagt Matthias Ederer weiter. «Es geht auch darum, was der Text an Gedanken, Assoziationen und Bildern auslöst. Aus heutiger Sicht gibt es daher viele interessante Ansatzpunkte, die uralten Texte der Bibel und das Thema queer zusammenzubringen. Damit fügen sie den vielen stimmigen Deutungen der Geschichte eine neue hinzu. Nacherzählen ist seit 2300 Jahren die beste Art und Weise, die
Bibel ins Heute zu holen.»

Wirklich überzeugend sei eine Nacherzählung, wenn sie das biblische Original genau kenne und ernst nehme. «In der Bibelwissenschaft», so Ederer weiter, «suchen wir das ehrliche Gespräch zwischen der Bibel und modernen Fragestellungen. Dazu gehört, die Bibel aus einem aktuellen Blickwinkel zu lesen und neue Perspektiven zu entdecken. Es ist aber wichtig, transparent zu machen, wo biblisches und modernes Denken nicht zusammengehen.»

Zur Kontroverse um die Queerbibel meint Matthias Ederer: «Die Bibel ist so angelegt, dass man regelrecht gezwungen ist, darüber zu streiten, wie man sie am besten versteht oder mit ihr vermeintlich richtig umgeht. Eine rege, aber respektvolle Debatte über die queere Bibel ist ein grosser Gewinn.»


Gesichter hinter der Queerbibel

Meinrad Furrer (58) wird manchmal als Queer-Pastor betitelt (siehe Haupttext). Streng genommen ist er jedoch kein Pastor, Priester oder Pfarrer: Denn er ist nicht an die römisch-katholische Missio gebunden, an die Einsetzung durch den Bischof. Als Theologe leitet er das Team der Peterskapelle in Luzern. 

Für Aufsehen sorgt Meinrad Furrer mit seiner Regenbogenbank, auf der er – trotz gegenteiligem Appell aus dem Vatikan – schwule und lesbische Paare segnet. Er steht öffentlich dazu, dass
er schwul ist und lebt in einer Partnerschaft.

Mentari Baumann (29) führt seit zwei Jahren die Reformbewegung der katholischen Kirche «Allianz gleichwürdig katholisch». Parallel peilt sie einen interdisziplinären Master an, zu dem Theologie gehört. Sie hat indonesische Wurzeln und lebt mit ihrer Frau in Bern.

Die beiden arbeiten für die Queerbibel mit vielen anderen meist queeren Menschen zusammen, die einen Bezug und Wissen zur Thematik – und Freude am Schreiben – haben.