Kodo Nishimura, der Mönch in High Heels

Religion leben und queer sein, für viele LGBTIQ+-Menschen ein Spannungsfeld. Der berühmte Make-up Artist und buddhistische Mönch Kodo Nishimura hat seinen eigenen Weg gefunden und sieht darin keinen Widerspruch. 

Interview Rico Schüpbach, Buenos Aires

DISPLAY: Kodo, welche Pronomen verwendest du?
Kodo Nishimura: Bitte verwende er/ihn. 

Du beschreibst deine Geschlechts-identität als «gender-gifted». Kannst du mir erklären, was du meinst?

Mein Körper ist männlich und damit fühle ich mich wohl. Bei der Person, die im Cockpit sitzt – also meine Seele – bin ich mir nicht sicher, ob sie männlich oder weiblich ist. Ich fühle mit, wenn Frauen aufgrund ihres Geschlechts ungerecht behandelt oder diskriminiert werden, das Gleiche passiert mir bei Männern, wenn sie beispielsweise dazu angehalten werden, schwere Dinge zu ertragen, nur weil sie vermeintlich das «stärkere Geschlecht» sind. Ich empfinde es als Geschenk, ausserhalb der Geschlechterbinarität zu denken. Manchmal sagen Frauen zu mir, dass sie sich nicht trauen würden, an Meetings zu sprechen, dann sage ich ihnen, doch natürlich, du sollst sprechen, deine Stimme ist genauso wertvoll wie alle anderen.

Der Prinzessinnen-Traum

Du bist in Tokyo aufgewachsen. Wie war deine Kindheit in Japan?

Ich habe es geliebt, in Prinzessinnen-Rollen zu schlüpfen, Belle von «Die Schöne und das Biest» oder «Arielle, die kleine Meerjungfrau». Ich habe den Mädchen beigebracht, wie sie Prinzessinnen mit langen Haaren sein können, dafür habe ich einen Rock um die Hüften gebunden und ein Stück Stoff auf den Kopf und damit habe ich lange Haare imitiert. Ansonsten habe ich Anime geschaut. Zwar gab es in diesen Geschichten queere Charak­tere, nur leider wurden die sehr oft als Bösewichte dargestellt. Ich wurde dadurch stark verunsichert. Ich hatte Angst, meinen Eltern zu sagen, dass ich homosexuell bin, weil ich nicht wollte, dass sie denken, ich sei ein Bösewicht. Ich habe mich sehr einsam gefühlt und ich dachte, ich würde etwas Falsches tun.

Dir hat in deiner Kindheit queere Repräsentation gefehlt?

Ja, die einzige Repräsentation, die es gab, waren eben die Bösewichte in Animes oder Komiker*innen, die sich im Fernsehen über Crossdresser lustig gemacht haben. Oder in der Schule gab es andere Jungs, die «homo» als Schimpfwort benutzten. Später als Teenager gab es dann mehr und mehr Referenzen, beispielsweise die Sendung «Queer Eye». Ich habe gesehen, wie frei sich die Darsteller bewegten und offen zu ihrer Homosexualität standen. Das hat mich inspiriert, ich dachte: Vielleicht kann ich auch irgendwann irgendwo auf der Welt ich selbst sein. 

Später bist du dann in die USA gezogen.

Genau, mit achtzehn bin ich in die USA gezogen. Insgesamt habe ich elf Jahre dort verbracht. Zwei Jahre in Boston, acht Jahre in New York und anderthalb Jahre in Los Angeles. 

Fashion und Faces designen 

Und dort konntest du deiner ersten Passion Make-up und Mode nach- gehen, richtig?

Ich habe Kunst, Mode und alles Schöne schon immer geliebt. Wie bereits gesagt, habe ich schon als Kind kleinen Mädchen beigebracht, Prinzessinnen zu sein. Ausserdem habe ich in jungen Jahren japanische Blumensteckkunst erlernt. In Boston und New York habe ich Kunst studiert, neben dem Studium habe ich der Make-up-Artistin der Wahl zur ‘Miss Universe’ assistiert. So bin ich weit herumgekommen. Ich war in Thailand, Florida, Las Vegas, Russland. Ausserdem habe ich bei der New York Fashion Week mitgewirkt. In LA habe ich Halle Bailey kennengelernt. Die Schauspielerin, die aktuell in aller Munde ist, weil sie als Afro-Amerikanerin Arielle spielt. Für mich die Erfüllung eines Kindheitstraums. 

Sich annehmen lernen 

Wärst du in Japan geblieben, hättest du dich auch so entfalten können?

Es war sehr wichtig für mich, Japan zu verlassen. Alles, was ich wusste, war sehr limitiert. In Japan denken viele Menschen, ihr Land sei das Universum. Die Akzeptanz gegenüber LGBTIQ+-Menschen ist sehr limitiert, aber auch das Konzept von Schönheit. Dick sein ist in Japan ebenfalls eine Schande. Wir idealisieren in Japan europäische Schönheitsideale, blaue Augen und blonde Haare. Alle, die nicht der Norm entsprechen, werden abgewertet. Erst ausserhalb Japans habe ich gelernt, mich als asiatischen Mann schön zu finden. Ich habe generell meinen Horizont sehr stark erweitert. Und mein Ziel ist es, andere zu ermutigen, das ebenfalls zu tun. 

«Ich konnte nicht verstehen, warum man den ganzen Tag beten sollte oder an unwissenschaftliche Dinge glauben»

Ist die Realität für LGBTIQ+-Menschen generell schwierig in Japan?

Dazu kann ich zwei Dinge sagen. Einerseits sind Menschen in Japan nicht feindselig. Du wirst keine physische Gewalt erfahren oder umgebracht, wenn du als Mann «gendernonconforming» Kleidung trägst. In den USA habe ich selbst mitbekommen, wie trans Frauen und queere Menschen auf der Strasse attackiert wurden, das ist sehr traurig. Diese Gewalt gibt es so in Japan nicht. Andererseits habe ich kürzlich gelesen, dass 80 Prozent der queeren Japaner*innen an ihrem Arbeitsplatz nicht geoutet sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein erfülltes Leben möglich ist. 

Der Weg zum Buddhismus 

Lass uns über deine andere grosse Leidenschaft sprechen, du bist auch ein buddhistischer Mönch.

Ich wurde in einem buddhistischen Tempel geboren, mein Vater ist Mönch und es wurde erwartet, dass ich den Tempel einmal erben werde. Das ist so üblich. Innerlich habe ich mich gesträubt, ich wollte nichts mit Buddhismus zu tun haben, ich konnte nicht verstehen, warum man den ganzen Tag beten sollte oder an unwissenschaftliche Dinge glauben. Ich habe rebelliert. Als ich dann in die USA zog, habe ich viele Mitstudent*innen aus aller Welt kennengelernt, alle haben ihren Hintergrund stolz als Inspirationsquelle verwendet. Ich dachte, vielleicht sollte ich mich auch auf meinen Hintergrund besinnen und zum Beispiel mit Ikebana, also japanischen Blumengestecken, arbeiten. Irgendwie war mir das aber alles zu oberflächlich.

Was hast du dann gemacht?

Mir wurde bewusst, dass ich mich mit Buddhismus näher auseinandersetzen möchte. Meine Mutter ist Pianistin, sie hat mir immer gesagt, du kannst nur kritisieren, was du auch selbst wirklich kennst. Also habe ich mich entschlossen, eine Ausbildung zum Mönch zu absolvieren. 

Ich stelle mir das sehr streng vor. 

Ja, es war sehr streng. Wir mussten um fünf Uhr aufstehen, um als erstes den Tempel zu reinigen. Im Winter in Eiseskälte. Meine Hände schmerzten vom kalten Wasser. Ausserdem haben wir stundenlang Mantras gesungen. Einmal habe ich sogar Blut gehustet. Ich kam an meine Grenzen. Im Tempel gilt zudem eine strikte Geschlechtertrennung, damit es keine Verführung gibt. Auch viele Rituale sind strikt nach Mann und Frau getrennt. Ich habe stark hinterfragt, ob es das Richtige für mich ist. Ich war mir nicht sicher, ob ich alle Regeln und Gebote realistischerweise auch tatsächlich befolgen kann, wie zum Beispiel: Trage kein Make-up, trinke keinen Alkohol, schlafe nicht auf hohen Betten.

Als Schwuler Mönch sein 

Du hast trotzdem weitergemacht.

Ja, am Ende der Ausbildung habe ich mich mit meinen Fragen an einen erfahrenen, sehr respektierten Mönch gewandt. Ich habe ihn gefragt, kann ich als Homosexueller Mönch sein? Er hat mich beruhigt und meinte, selbstverständlich können alle durch Buddhismus befreit werden. Religion ist etwas Lebendiges. Sie passt sich an. Viele Gebote stammen aus einer anderen Zeit. Hohe Betten waren früher Luxus, heute gehören sie auch in Japan für die meisten zum Alltag. Es ist heute unmöglich, in Japan zu leben, ohne mit Geld in Berührung zu kommen, denn auch als Mönch zahlst du Steuern. Und wirst bezahlt. Es ist unrealistisch, nur von Spenden zu leben. 

Queer und religiös sein, für viele eine Herausforderung.

«Wir mussten um fünf Uhr aufstehen, um als erstes den Tempel zu reinigen. Im Winter in Eiseskälte»

Wir wissen heute, dass Religion sehr oft dafür missbraucht wurde, um Land zu erobern oder das Sexualverhalten von Menschen zu kontrollieren. Viele Menschen sind kritisch gegenüber Religion, weil sie sich von den Geboten abgeschreckt fühlen. Dabei vergessen wir oft, warum Religion überhaupt existiert. Manchmal ist es auch einfacher, eine Regel zu befolgen, ohne gross zu hinterfragen, ob diese in der heutigen Zeit überhaupt noch sinnvoll ist. Doch wir sind schlau und haben die Fähigkeit, zu hinterfragen, worum es in Wirklichkeit geht. Für mich ist es kein Widerspruch, Mönch zu sein und Make-up und High Heels zu tragen. Ich will, dass Menschen sich befreien können, zu sich selbst finden und ihren Herzen folgen. 

Als Atheist*in wahre ich eine gewisse Distanz zu Religionen, ohne den Glauben anderer abwerten zu wollen. Mein erster Gedanke bei Buddhismus wäre, dass es ein toleranterer, offener Glaube ist als monotheistische Religionen. Liege ich da falsch?

Wie in allen Religionen gibt es Menschen, die den Glauben konservativ oder eben liberaler auslegen. Ich war sehr skeptisch zu Beginn. Doch mittlerweile konzentriere ich mich auf das Wichtige. Auf die Inhalte und nicht auf die gesellschaftlich konstruierten Regeln. Wir sind alle wertvoll und sollten unseren Herzen folgen.

Kann jede Person Buddhist werden?

Ja, Buddhismus ist wie ein Film oder ein Buch der Weisheit. Du musst nicht zu Disney gehören, um Disney-Filme zu schauen. Das Gleiche gilt für Buddhismus. Alle können Buddhismus lernen.

Was ist eine der Hauptlektionen, die dich Buddhismus gelehrt hat?

Nicht zu extrem sein. Alles hat einen Grund. So lange du etwas möchtest, ist es absolut in Ordnung, diesen Traum zu verfolgen und deine Träume zu verwirklichen. 


Mönch, Mode, Make-up

Kodo Nishimura, geboren 1989, ist japanischer buddhistischer Mönch und Make-Up-Artist, der in den USA und in Japan aktiv ist. Des Weiteren engagiert er sich als LGBTIQ+-Aktivist. Sein Vater war ebenfalls Mönch und Kodo wuchs dadurch im Tempel auf. Nach der High School ging er in die USA und studierte dort am Dean College. Während dieser Zeit entdeckte er seine Leidenschaft für Mode und Make-up und bildete sich darin weiter fort. Er schminkt internationale Models für Fashionshows und gibt Make-up-Kurse für trans Frauen. 2015 erhielt er die Mönchsweihe und teilt seine Zeit seitdem auf das Leben im Tempel und auf seine Karriere in der Fashionwelt auf.