Minderheit in der Minderheit – schwule Roma in Ungarn

LGBTQ+-Aktivist Joci Márton ist das perfekte Feindbild für Victor Orban. Der schwule Rom provoziert auch gerne mal im lila Röckchen.

In Ungarn ist es – wie in vielen anderen Staaten Osteuropas leider auch – nach wie vor nicht einfach, als Gay so offen leben zu können, wie es wünschenswert wäre. Wenn man dann noch einer weiteren Minderheit angehört, wird es noch komplizierter. So ergeht es Joci Márton aus Ungarn. Der 35-Jährige ist Gay. Und ein Mitglied der Roma-Völker. Wie der Aktivist es erlebt, Minderheit in einer Minderheit zu sein, und wie er sich für seine Communitys einsetzt, erzählt er DISPLAY im Interviewmit DISPLAY-Mitarbeiter Mathias Steger. 

DISPLAY: Joci, was hat dich zum Entschluss gebracht, dich für die Roma- sowie die Gay-Community einzusetzen?

Joci Márton: Zu Beginn setzte ich mich vor allem für die Rechte der Roma ein. Als der intersektionale Aktivismus in den USA zu blühen begann, interessierte ich mich mehr und mehr für den LGBTQ-Aktivismus der Roma. Ich habe viele schwarze und lateinamerikanische LGBTQ-Menschen erlebt, die sich für ihre Community einsetzten, was ich sehr inspirierend fand. Auch heute noch verfolge ich ihre Bewegung und lerne daraus, weil die Herausforderungen oft sehr ähnlich sind.

Joci Márton
Provokativ: In seiner  Fotoausstellung posierte der Aktivist Joci Márton rebellisch und irritierend androgyn.

Wie unterstützt du die Community?

Es ist mir wichtig, die Ungerechtigkeiten und fehlende Toleranz in unserem System aufzuzeigen und zu bekämpfen. Vor kurzem etwa habe ich dies mit einer Fotoausstellung gemacht, in der Gays, Lesben und Transgender aus der Roma-Community portraitiert werden. Selbst die Oberschicht in Ungarn ist nicht imstande, sich ausreichend für Toleranz einzusetzen. Häufig werden Beleidigungen und Diskriminierungen aufgrund von Hautfarbe oder sexueller Orientierung von der Gesellschaft zwar verurteilt; wenn es dann aber darum geht, Verantwortung zu übernehmen und etwas dagegen zu tun, dann schweigt die Bevölkerung sehr schnell.

Kannst du uns mehr über diese Fotoausstellung erzählen?

Die Fotoausstellung hatte das Ziel, die Roma-LGBTQ-Community in ihrer Stärke und Schönheit darzustellen. Wir haben viele Schwierigkeiten im Leben, aber möchten auch die schönen Seiten zeigen. Wir alle wissen, wie wichtig die visuelle Darstellung der verschiedenen Minderheiten ist. Sie hat einen wichtigen Einfluss darauf, wie andere uns sehen und wie wir in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Ich hoffe, dass diese Bilder junge LGBTQ-Roma erreichen, ihnen Mut zusprechen und aufzeigen, dass sie mit ihren Sorgen nicht allein sind und auf ihre Community zählen können.

Was ist für dich «schwieriger» – als Gay oder als Rom akzeptiert zu sein?

Das ist eine sehr gute Frage. Ich glaube, als Rom ist es noch schwieriger. Es kommt aber auch darauf an, in welcher sozialen Schicht man aufwächst und wie gebildet das Umfeld ist. Für einen Gay in einem sehr konservativen Umfeld auf dem Land ist es vielleicht sehr schwierig. Mein Partner ist Italiener und kommt aus einer wohlhabenden Familie und dank seinem sozialen Status haben wir in seinem Umfeld nie Diskriminierungen als schwules Paar erlebt. Als ich aber im Spital war, nur im Pyjama, da war ich auf einmal nur mehr ein Roma und wurde gedemütigt. Die Krankenschwester fragte mich über meine sexuelle Orientierung aus und beschimpfte mich, weil ich nicht mitgeteilt hatte, dass ich Gay bin und daher HIV+ sein könnte.

Sanft und wehrhaft: Jana. Sie ist eine sehr engagierte und hochkompetente Krankenpflegerin.
Sanft und wehrhaft: Jana. Sie ist eine sehr engagierte und hochkompetente Krankenpflegerin.

Wirst du von deiner Familie und der Roma-Community akzeptiert?

Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass sich die Roma-Community für die Rechte von LGBTQ+ einsetzt. Da ich hauptsächlich mit gebildeten Menschen aus der Community zu tun habe, habe ich es sicher einfacher und werde meistens so akzeptiert, wie ich bin. Ich würde sagen, dass gebildete Roma in Ungarn sogar progressiver sind als der Mainstream. Das trifft jedoch
natürlich nicht auf die gesamte Roma-Community zu. Wie überall gibt es auch bei den Roma viele Vorurteile gegenüber Gays. Ich glaube aber nicht, dass das mit der Kultur der Roma zusammenhängt. Mein Vater etwa ist stolz auf unsere Sprache und unser kulturelles Erbe, aber für ihn gehört Homophobie eindeutig nicht zu unserer Kultur. 

Wie ist die Situation für Minderheiten in Ungarn aktuell?

Die mangelnde Pressefreiheit und die Orbán-Regierung sind wirklich ein grosses Problem. Dadurch wird es für Minderheiten zunehmend schwieriger, denn unabhängige Medien werden von Tag zu Tag weniger. So werden die Stimmen der Opposition immer leiser und die Bevölkerung hört immer mehr auf die Propaganda der Regierung. Beispielsweise hat Ungarn für Transgender-Menschen etwa die Möglichkeit verboten, ihr Geschlecht und ihren Namen in offiziellen Dokumenten zu ändern. Diese unmenschliche Massnahme kam nicht aus dem Nichts, sondern war eine geplante Aktion mit aktiver Unterstützung der regierungsfreundlichen Medien. Zuerst hetzten sie die ungarische Gesellschaft gegen Transgender-Menschen auf, indem sie diese mit ihren Portraits diskreditierten, und dann stellten sie sicher, dass es während der Pandemie keine Widerstände geben würde, als das Gesetz verabschiedet wurde. Vor einiger Zeit gab es eine «provokante» Werbung für Coca-Cola in den Strassen von Budapest. Darauf waren zwei Männer zu sehen, die sich liebend umarmten. Daraufhin kam es zu grossen Protesten der Regierung, und die Plakate wurden wieder entfernt.

All das sind klare Botschaften an die Wählerinnen und Wähler. Die Regierung möchte die Botschaft verbreiten, über den Minderheiten zu stehen und dass diese eine Bedrohung sind. Genauso machen sie es bei der Anti-Roma-Rhetorik. Und so gibt es in Ungarn immer weniger Menschen, die Solidarität mit Minderheiten zeigen. Zehn Jahre eines autokratisch-hybriden Regimes machen es auch für Verbündete schwierig.

Bart und High Heels: Miki. Er hat Anthropologie studiert 
und engagiert sich in verschiedenen sozialen Projekten.
Bart und High Heels: Miki. Er hat Anthropologie studiert und engagiert sich in verschiedenen sozialen Projekten.

Victor Orbán gilt als sehr homophob und ist nun bereits seit zehn Jahren Ministerpräsident in Ungarn. Was hat sich seitdem getan?

Orbán hat eine Scheinrealität aufgebaut, in der Liberale als Feindbilder erachtet werden, welche die traditionelle christliche Nation mit der Familie als Grundwert vernichten wollen. Alles in Zusammenhang mit Liberalismus, wie Feminismus, Gay-Rechte oder Antirassismus gilt sofort als verdächtig und wird als Verschwörung gegen traditionelle Werte gesehen. Das ist verrückt. 

Ich war nur einmal in der Schweiz für eine Sightseeing-Tour und kann daher nicht genau beurteilen, wie es für Gays in eurem Land ist. Hier kann ich aber nicht mit meinem Partner händchenhaltend durch die Gegend spazieren. 

Bekommen Roma genug Unterstützung von der Gay-Community in Ungarn oder gibt es in der Community Vorurteile gegenüber Roma?

Genau wie Roma homophob sein können, kann auch jemand aus der LGBTQ+-Community rassistisch sein, obwohl die Person vielleicht selber diskriminiert wird. Das ist gewissermassen nachvollziehbar, weil man nicht überall einer Minderheit angehören möchte. So erleben viele einerseits Unterdrückungen und unterdrücken andererseits leider andere selber. Die grösste Sorge macht mir, dass die Mainstream-LGBTQ+-Einrichtungen das Kapital der Vielfältigkeit innerhalb der Community nicht erkennen und gewisse Gruppen nicht berücksichtigen. Die LGBTQ-Bewegungen kommen gewöhnlich aus besseren sozialen Schichten. In Osteuropa ist das noch stärker der Fall. Das ist schade, weil so die Vielfältigkeit nicht so gelebt werden kann, wie es wünschenswert wäre.

Sanft und androgyn: Gabor. Er ist ein Lebenskünstler. Gabor hatte selbst einst grosse 
Probleme, heute hilft er Jungen, denen es ähnlich geht wie ihm damals.
Sanft und androgyn: Gabor. Er ist ein Lebenskünstler. Gabor hatte selbst einst grosse Probleme, heute hilft er Jungen, denen es ähnlich geht wie ihm damals.

Gibt es bei diesen vielen negativen Nachrichten vielleicht dennoch etwas Gutes und Positives zu berichten?

Mir und einigen meiner Roma-Freunde hat es gereicht, in der Gesellschaft nicht gehört zu werden. Daher haben wir auf Facebook die Online-Talkshow «Ame Panzh» ins Leben gerufen, was auf Romanes «fünf von uns» bedeutet. In dieser Talkshow diskutieren wir hauptsächlich über Roma-Probleme aus einem queeren Blickwinkel. Wir haben schon mehrere Episoden gemacht und waren positiv über mehr als tausend Viewer überrascht. Das ist nicht viel, aber doch ein guter Start.

Hast du bereits Pläne für die Zukunft?

Ich habe neue Ideen und möchte auf alle Fälle wieder eine Fotoausstellung organisieren. Dieses Mal möchte ich das Spektrum aber erweitern und auch Leute darstellen, die nicht Roma sind, aber ebenfalls gehört und gesehen werden sollen, wie etwa bedürftige Menschen oder solche, die nicht den herkömmlichen Geschlechtsvorstellungen entsprechen. ||

Bilder: Andras Jokuti