Die nicht geweinten Tränen der Männer

Boys do cry – Jungs weinen: Das behauptet Marius Baer im Song, mit dem er am ESC für Furore gesorgt hat. Doch: Wie oft weinen Männer wirklich?    Text Marcel Friedli

Sie übermannen mich. Sie: die Tränen. Von einem Moment auf den anderen. Auf dem Markt, zehn Jahre ist es her, kaufe ich einen Blumenstrauss, um ihn auf das Grab meiner Mutter zu legen. In exakt diesem Moment wird mir bewusst, dass ich für meine verstorbene Mutter Blumen kaufe. Für ihr Grab. Dass sie wirklich nicht mehr hier ist, dass sie wirklich gestorben ist. Zwar versuche ich, die Tränen zu stoppen. Ich will mir keine Blösse geben. So öffentlich, auf dem Markt mitten in der Stadt, an diesem Blumenstand. Ich bin machtlos – sie fliessen, die Tränen. 

Ich schäme mich 

Ich schäme mich immer, wenn ich weine, sogar wenn ich alleine bin. Erst recht schäme ich mich vor den Augen dieser fremden Frau. Ich entschuldige mich, obwohl mir bewusst ist, dass man sich für Gefühle ebenso wenig zu entschuldigen braucht wie für Tränen (auch wenn man ein Mann ist). Denn was ist natürlicher, als Traurigkeit und Trauer mit Tränen auszudrücken? Ich erkläre der Verkäuferin, dass ich die Blumen aufs Grab meiner Mutter lege. Dass mich das dermassen traurig macht. Und dass ich mich schäme, dass ich hier so losflenne.Sie reagiert einfühlsam und verständnisvoll. Das ist heilsam. Ich fühle mich besser. Bin ein paar Schritte weitergegangen in der Trauerarbeit, im Prozess des Trauerns. Es sind erst die ersten Schritte; meine Mutter war damals erst vor ein paar Monaten gestorben.

Tiefsitzende Scham

Boys do cry, Jungs (und Männer) weinen. Dieses Statement des ESC-Sängers Marius Baer tröstet mich. Obwohl ich mich weiterhin, auch heute noch, schäme, wenn ich vor jemandem oder im stillen Kämmerlein weine. Das wacht wie ein Schäferhund tief in mir drin: dass ich mich schützen, mir keine Blösse geben will, auf stark mache. Songs wie jener von Marius Baer, mit dem er ins ESC-Finale vorgestossen ist, lassen mich hoffen, dass sich das ändert. Dass es mehr und mehr salonfähig ist, als Mann zu seinen Gefühlen zu stehen, allenfalls mit Tränen: zu Traurigkeit, Enttäuschung, zu Wut, Zorn, zu Frustration, zu Freude. Die Jungs von heute haben es leichter. Dachte ich. Bis ich vor kurzem einen siebenjährigen Jungen treffe. Er ist sichtlich stolz, dass er nicht weint, als er den Hund zurückgeben muss, den er gehütet hat. «Im Gegensatz zu meinen Schwestern!» Dass man als Bub stark zu sein und nicht zu weinen hat, wenn man traurig ist: Das ist schon jetzt tief in ihm drin. Und wohl in vielen Jungs von heute – immer noch. Auf diese Episode habe ich Christoph Walser angesprochen. Ich will von ihm unter anderem wissen, warum zahlreiche junge Männer die Tränen auch heute noch wegdrücken. Seit über zwanzig Jahren setzt sich Christoph Walser mit dem Mannsein und mit Männern auseinander, berät Männer (siehe Box Seite 19), auch in Gefühlsdingen. Zwar tue sich etwas. Doch Courant normal sind Tränen für Männer bei weitem nicht – auch nicht für die neue Generation von Männern, die meist aufgeschlossener sind. Warum viele Männer sich noch immer schwer tun mit Emotionen: Das sagt Christoph Walser im Gespräch mit DISPLAY.  

«Ich schäme mich immer, wenn ich
weine, sogar wenn ich alleine bin»


«Trauer ist mit
Scham behaftet»

Berater Christoph Walser über Männer und ihre Emotionen.

DISPLAY: Jungs weinen: So heisst übersetzt der Schweizer Song, der am diesjährigen ESC einen Achtungserfolg errungen hat. Stimmt das – weinen junge Männer wirklich?

Christoph Walser: Für die Buben und Männer, die jetzt jung sind, ist es weniger tabu, zu weinen. Für jene Generation, der ich angehöre, war und ist das nahezu ein Tabu. 

Was ist der Grund für diese
Veränderung?

Sie hat damit zu tun, dass sich das Männerbild gewandelt hat. Dass Songs wie jener von Marius Baer so populär sind, deutet ebenfalls darauf hin. Zudem sieht man vermehrt, dass auch männliche Stars weinen – sie werden damit zu Vorbildern.

Sie meinen Tennisstar Roger Federer?

Zum Beispiel. Es gibt etliche Männer, die in der Öffentlichkeit zu ihren Tränen stehen – und damit zu ihren angeblichen Schwächen. Ich erlebe viele Männer, denen bewusst wird, dass sie ein Timeout benötigen – eine Auszeit vom Anspruch, stets Leistung zu erbringen.

Auch für Jungs von heute scheint es immer noch ein Muss, die Tränen zu unterdrücken.

Bei Buben gibt es immer noch Gefühle, die sozial besser akzeptiert sind als andere. So werden Wut, auch Freude und Lust gern gesehen. Das sind Gefühle, die ihn stark werden lassen. Sie werden darum gern gesehen.

Im Gegensatz zu Trauer?

Trauer wird bei Buben anders – negativ – bewertet als bei Mädchen. Trauer ist für Jungs ein Gefühl, das mit Scham behaftet ist. Darum ist es eher tabuisiert.

Weil es mit Schwäche assoziiert wird?

Genau. Darum mögen es viele Männer nicht, wenn man von Krise spricht: Weil es mit Schwäche gleichgesetzt wird. Vermeintlich schwach zu sein, wird noch immer negativ bewertet. 

Alles, bei dem man mit angeblicher Stärke auftrumpfen kann – wenn man also zum Beispiel nicht weint – wird gesellschaftlich als positiv angesehen. Darum ist es für Männer oft schwieriger, sich verletzlich zu zeigen.

Aber bei Stars ist es in Ordnung?

Offenbar, vielleicht aufgrund der Publizität und der Ausstrahlung. Und wenn es bei einem aussergewöhnlichen Moment, bei einem Sieg, passiert. Im Alltag hingegen wird es oft negativ ausgelegt, wenn man sich als Bub und Mann verwundbar zeigt.

Warum ist das so?

Das hat mit der Sozialisierung unter Jungs zu tun, mit der Hierarchie in den Peer Groups. Die älteren Buben gelten als die stärkeren. Ist man jünger, eifert man ihnen nach, orientiert sich an ihnen. Da ist es hinderlich, Gefühle zu zeigen.

Und wenn es die Eltern anders vorleben?

Ihre Rolle wird überschätzt. Buben vergleichen sich mit anderen Buben, vor allem mit den älteren. Und es tritt in den Hintergrund, was Eltern zu vermitteln und vorzuleben versuchen.

Sind schwule, bisexuelle und trans Männer gefühlsbetonter?

Bei der Sozialisierung gibt es keinen Unterschied. Auch schwule und bisexuelle Männer orientieren sich an der Mehrheitsmeinung: daran, was als opportun gilt. Nach dem Coming-out kann sich das in zwei unterschiedliche Richtungen entwickeln: Man setzt einen Gegentrend und zeigt seine gefühlvolle Seite, redet offen darüber.

Und die zweite Richtung?

Das sind jene, die sich dem Männer-Mainstream übermässig anpassen – zum Beispiel nur jene Seite leben, die der Karriere und dem Status dient. Entscheidend ist also nicht die sexuelle Orientierung und Identität, sondern das Zusammenspiel von Prägung, Erfahrung und Persönlichkeit.

Worin besteht der Wert des Weinens?

Weint man, verliert man die Kontrolle. Zunächst schämt man sich, weil man so sozialisiert worden ist, dass es zentral sei, sich selber zu kontrollieren. Versagt diese Kontrolle, hat dies den Vorteil, dass es einen entlastet – und Nähe zu anderen schaffen kann. 

Für einen Mann ist es wertvoll, wenn ein anderer ihm die Erlaubnis gibt, den Tränen freien Lauf zu lassen. Das öffnet den Raum, ermöglicht Tiefe und Nähe.

Aber nicht alle reagieren positiv darauf?

Nein, oft kommt zur inneren Bewertung jene von aussen. Das verstärkt das Gefühl von Scham. Männer versuchen darum meist, Tränen zu unterdrücken.

Ob man weint oder nicht: Gefühle sind immer da, weil wir Menschen sind. Wie managt man sie?

Das kann man in drei Schritten zusammenfassen (Box unten). Viele Männer haben sie nicht gelernt. Doch man kann das üben – und so einiges dazu beitragen, dass man zufriedener und ausgeglichener durchs Leben geht.

Viele, vor allem Männer, drücken Gefühle weg. Geht man ihnen stets aus dem Weg, kann das fatale Folgen haben – Stichwort Sucht.

Ja, man kann abhängig werden von Alkohol oder Pillen, weil man dem Schmerz so ausweichen will. Die grösste Sucht von Männern ist meiner Erfahrung nach eine Verhaltenssucht: die Arbeit. 

«Die grösste Sucht von Männern ist die Arbeit»

Warum?

Sehr viele Männer definieren ihren Wert und sich selber über die Leistung im Job – sie flüchten sich in die Arbeit, stürzen sich in Projekte. Um schwierige Gefühle oder Gespräche zu umschiffen. Eine ideale Ausrede, denn Arbeit ist in unserer Gesellschaft positiv besetzt. So heisst es ja: Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen.  


Gefühle managen: 1, 2 und 3

Drei Schritte zum Umgang mit Gefühlen:

Schritt 1: ein Gefühl wahrnehmen, auf sensorischer Ebene. Zum Beispiel als Krampfen im Bauch, als Schwere beim Herzen, als Ziehen an einem bestimmten Ort und so weiter. 

Schritt 2: sich erlauben, diesem Gefühl zu trauen, es ernst zu nehmen, es zu würdigen. Gefühle sind nicht gut oder schlecht – sie sind. Sie akzeptieren und annehmen, ohne sie zu werten und Geschichten in sie hineinzufabulieren. 

Schritt 3: sich Zeit nehmen, Worte für diese Gefühle zu finden: sie zu benennen. Innerlich Abstand nehmen und den Kopf einschalten: Auslöser erkennen, Muster ergründen. Sich mit Menschen des Vertrauens austauschen.


Experte für Männer

Christoph Walser hat in Zürich Theologie studiert und die Austauschplattform Männerpalaver gegründet. Er ist Gründungsmitglied des Dachverbands der Schweizer Männer- und Väterorganisationen. 

Seit über zwanzig Jahren ist Christoph Walser Experte in männerspezifischer Beratung und Bildung mit einem eigenen Unternehmen; seit sechs Jahren als Dozent am Schweizer Institut für Männer- und Geschlechterfragen SIMG. Dies ist die Fachstelle, die dem genannten Dachverband angegliedert ist. 

Christoph Walser arbeitet als reformierter Pfarrer und Seelsorger sowie als Coach und Trainer für Lifebalance und für die Prävention von Burnout.

Infos: timeout-statt-burnout.ch maennerpalaver.ch  maenner.ch